Das andere Münster
zwischen Kirchen, Strafjustiz, nationaler Mehrheit und Einheit,
Kunst, Wissenschaft, Politik und Menschenrechten,
den Niederlanden und anderen Nachbarregionen
Feuer und Schwefel
Feuer und Schwefel, so heißt es schon im Genesis-Bericht der biblischen
Überlieferung, sollen über die "Sodomiter" fallen, das heißt
- im landläufigen Bibelverständnis: über Homosexuelle.
Solch ein "biblischer" Einstieg mag hier etwas erstaunen, doch scheint
er gerechtfertigt: in einer Bischofsstadt, die wesentlich von kirchlich
religiösen, katholischen Traditionen geprägt ist, die eine der
größten deutschen Theologenfakultäten und sogar ein Institut
für neutestamentliche Textforschung von Weltruf beherbergt.
Was in biblischer Tradition über Homosexuelle geschrieben worden
ist, hat bis heute nicht an Aktualität verloren. Noch vor wenigen
Jahren meinte der Literaturhistoriker Hans Mayer; daß es auch in
der Gegenwart noch immer "Feuer und Schwefel" - im übertragenen Sinne
versteht sich - auf Homosexuelle niederfallen (Mayer, S. 182). Das mag
vor allem für die nationalsozialistische Zeit gelten, als Homosexuelle
verfolgt, ermordet und schließlich tatsächlich dem Wortsinn
nach: dem "Feuer "überantwortet: in den KZ-Öfen verbrannt wurden.
Falls sie das KZ überlebten, wurden sie auch von "Wiedergutmachung
"oder öffentlicher Anerkennung ausgeschlossen. Wann wird die katholische
Kirche ein Bedauern zu diesen Verbrechen an Homosexuellen äußern?
Die ermordeten NS-Opfer wurden in der Adenauer-Zeit zusätzlich "tot
"-geschwiegen. In Münster enthielten sich Presse und Öffentlichkeit
standhaft jeder Zuwendung oder Aufmerksamkeit.
Trotzdem hat sich zu allen Zeiten die menschliche Natur durchgesetzt.
Das konnten alle Anstrengungen, Verfolgung und Vernichtung, jahrhundertelange
Diskriminierung von Kirchen und anderen Institutionen nicht verhindern.
--74--
Nicht der Homosexuelle ist pervers, sondern die Gesellschaft, in
der erlebt!
Die erste Schwulen Demonstration in Münster
Erst in den 60er Jahren lockerte sich die Mehrheitsdiktatur allmählich
gegenüber der homosexuellen Minderheit. Wichtige Anstöße
gaben die liberalen Verhältnisse in Skandinavien, den Niederlanden,
insbesondere das Beispiel der DDR, die 1968 das Strafrecht reformierte.
Das Bemühen der Bundesregierung um gesamtdeutsche Gemeinsamkeiten
[gab] den einschlägigen Reformbemühungen im Westen neuen Auftrieb.
Als dann das bundesdeutsche Strafrecht 1969 endlich gemildert wurde, traf
diese Reform in Münster auf fruchtbaren Boden, vorbereitet durch die
"68er-Revolution" an der Universität, die "Sexuelle Revolution" und
andere Impulse. - Wer sich freilich in der münsterschen Ortspresse
über die Studentenunruhen der End¬60er informieren will, wird
vergeblich suchen. Das erstaunt umso mehr weil Münster mit dem Insider-Treff,
dem „Schwarzen Schaf“ an der […]straße, eine besondere Adresse von
überregionaler Bedeutung war. Der Funke sprang über, als Ende
1971 […] Rosa von Praunheims Film "Nicht der Homosexuelle ist pervers,
(..)" gezeigt wurde. Lag es an der münsterschen Atmosphäre oder
war es das Verdienst einzelner Akteure und ihrer Initiativen, daß
dann in Münster die erste "Schwulen-Demonstration" [West-]Deutschlands
stattfand? Von der Ortspresse blieb sie ebenso ignoriert wie alle nachfolgenden
Veranstaltungen, die Münster zeitweilig zu einer Art Koordinationszentrale
schwulen-aktiver Gruppen in Deutschland werden ließ. Allen voran:
die HSM (Homophile Studentengruppe Münster). Es gibt wohl nur wenige
namhafte Schwulen-Akteure dieser Zeit, die damals nicht zu irgendeinem
Treffen in Münster waren. Von Anfang an war das studentische Element
ein maßgebender Faktor. Die Anbindung an Wissenschaft und Forschung
gewährleistete eine umfassende Reflexion und eine gewisse Kontinuität.
Manche Akteure von damals wirken heute als Hochschulprofessoren. Außer
der HSM gab es viele kleinere "Neben"-Gruppen, private Zirkel mit halb
öffentlichem oder zumindest kontinuierlichen Charakter Auch die Kneipen-Szene
änderte sich, neben dem „Rauchfang“ und dem „Club Royal“ u.a. gab
es viele Jahre „Rüther“ in der Sonnenstraße mit seinem eigenen
Charme: mit unverschlossener Tür, mit einfach bürgerlicher "normaler"
Ausstattung, mit dem faszinierenden Nebeneinander aller "Farben". Ende
der 70er Jahre gab es vorübergehend auch andere Gaststätten,
die als einschlägige Treffs von Bedeutung waren: „L'Aiglon“ im Kuhviertel
und das „Grünhaus“ an der Grevener Straße, wo manche Großveranstaltung
stattfand (vgl. Münstersche Zeitung vom 20.12. 1980).
--75--
Das Beispiel der Niederlande
Von besonderer Anziehungskraft waren die benachbarten Niederlande -
in mehrfacher Hinsicht: Zum Wochenende zogen viele Münsteraner ins
nahegelegene Grenzstädtchen Enschede: ins „Het Boelke“, gelegentlich
auch bis nach Amsterdam, oder - bei gutem Wetter - nach Zandvoort. Bei
jedem dieser Ausflüge konnte man feststellen, wie attraktiv und nachahmenswert
das niederländische Beispiel war. Aus den Niederlanden wurden emanzipatorische
Schriften "eingeführt" und diskutiert, zeitlich parallel zur Aufregung
in katholischen münsterschen Kreisen über den freiheitlichen
Holländischen Katechismus. Mit staunenden Ohren und voller Bewunderung
hörte man in Münster von der national-niederländischen Schwulenorganisation,
dem COC, unter der Schirmherrschaft des Staatsoberhauptes, der Königin
der Niederlande! Sollte das deutsche Pendant, der Bundespräsident,
einmal einer ähnliche Organisation in Deutschland vorstehen? Von solchen
Ideen war man in Deutschland noch weit entfernt. Es wäre schon beachtlich
gewesen, hätten auch außerschwule Kreise oder gar die Presse
in Münster davon Kenntnis genommen - in einer Stadt, deren Institutionen
sich als vorrangige Ansprechpartner der Niederlande in Deutschland verstehen!
Neue Wege eines "schwulen" Kunstverständnisses im Rheinland
Natürlich gab es auch andere Impulse, zum Beispiel neue Wege eines
"schwulen" Kunstverständnisses: der wachsende Einfluß des schwulen
Künstlers Andy Warhol in Deutschland vor allem seit den 70er Jahren
(Abb. :Andy Warhol Torso, 1977)
--76--
(z.B. Kölner Sammlung Ludwig) gab dem schwulen Selbstverständnis
in den münsterschen Schwulengruppen an der Universität neue Anregungen.
1976 veröffentlichte Hans Mayer seine sensationelle Studie über
"Außenseiter" in Kunst und Literatur In den Buchkapiteln "Judith
und Dalila", "Sodom" und "Shylock" verglich er dabei Homosexuelle, Juden
und emanzipierte Frauen miteinander, um so verblüffende Parallelen
zu erkennen. Sein "offener Schluß" provozierte die Leserschaft zur
eigenen Urteilsbildung, die der Schwulenbewegung neue Horizonte auch im
Kunst- und Selbstverständnis erschloß. 1977 wurde Cécile
Beurdeleys "L'Amour bleu - Die homosexuelle Liebe in Kunst und Literatur
des Abendlandes" in Münster bekannt. Beurdeley zeigte neue Wege der
Kunstrezeption, aber auch des schwulen Selbstverständnisses: Meisterwerke,
zum Beispiel die Sixtinische Kapelle im Vatikan oder andere Werke des "schwulen"
Michelangelo erschienen in völlig neuem, öffentlichen Licht.
Homosexualität als Geschenk und Berufung Gottes?
Auf dem Evangelischen Kirchentag 1977 in Berlin (West) gründete
sich die Gruppe HuK (Homosexualität und Kirche), die seither kontinuierlich
den Dialog mit den Kirchen anmahnte.
Für die katholischen Schwulen war die Situation besonders schwierig,
war doch noch 1976 eine Erklärung der römischen Kongregation
für Glaubenslehre erschienen, die die herkömmliche Diskriminierung
aufrechterhielt. Sie ist bis heute unwidersprochen geblieben. Gewisse Hoffnungen
weckte theologische Versuche, zum Beispiel von Wunibald Müller, der
eine umfassende Umfrage unter katholischen Priestern und deren Einstellung
zur Homosexualität vorlegte. Fazit war, daß die überwiegende
Mehrzahl der befragten Priester sich zuständig fühlte und die
Akzeptanz homosexueller Menschen und ihrer Lebensentscheidung befürworteten.
Was Kirchenobere forderten und was Pfarrer vor Ort empfahlen, zeigte das
Dilemma katholischer Theologen zwischen Anspruch und Wirklichkeit. So dauerte
es in Münster noch bis 1982, bis einige Theologen sich zu einer HuK¬Gruppe
zusammenschlossen. Inzwischen ist die HuK ein auf circa 700 Mitglieder
gewachsener Verein, dem in der katholischen Kirche aber noch immer die
offizielle Anerkennung und Förderung versagt blieb - im Gegensatz
zur evangelischen Kirche, die sich stärker dem Dialog und der Verantwortung
öffnete.
1982 verfaßte der evangelische Düsseldorfer Gemeindepfarrer
Hans Georg Wiedemann sein umfassendes Werk über "Homosexuelle Liebe
--77--
- Für eine Neuorientierung in der christlichen Ethik". In diesem
Buch trug er biblisch und theologisch begründete Zweifel gegen die
vorherrschende Sexualdoktrin der Kirchen vor und belegte auch innerkirchliche
Widersprüche. Wiedemann verwahrte sich dagegen, das Thema ausschließlich
auf Sexualität zu reduzieren:
"... daß es mir im Kern um Liebe geht, um die Liebe zwischen
Menschen des gleichen Geschlechts ..."
auch in ihrer moralischen und ethischen Dimension. So erinnerte er
an das biblische Beispiel, die Erzählung von König David und
seiner Liebe zu Jonathan (Wiedemann, S. 80 [vgl. 1 Samuel 20,17 und 41
und 2 Samuel 1,17ff]). Darf ein gläubiger Christ nun seine Homosexualität
als Geschenk oder gar als Berufung Gottes bewundern und, wie früher
schon Michelangelo, zum "Lobe Gottes" nutzen und genießen? Nach dieser
theologischen Auffassung wäre auch die gleichgeschlechtliche Liebe
ein Abbild Gottes! Beachtlich war die jüngste innerdeutsche Diskussion
über die Entwicklung in Dänemark, wo ein evangelischer Pfarrer
und sein Freund von seiner Gemeinde und Kirchenleitung akzeptiert und anerkannt
werden, oder in Bayern, wo eine Gottesdienstordnung zur Einsegnung homosexueller
Partnerschaften erarbeitet wird.
Die öffentliche politische Würdigung der Homosexuellen:
Bekenntnis zum Rosa Winkel
Von Bedeutung war auch die öffentlich politische Würdigung
der Homosexuellen. Am 8. Mai 1985 erwähnte der Bundespräsident
Richard von Weizsäcker erstmals in einer Gedenkstunde des Deutschen
Bundestages - leider bisher auch das letzte Mal: daß Homosexuelle
zu den erinnerungswürdigen Opfern des Nationalsozialismus gehören.
Bald darauf entzündete sich eine Diskussion um die staatliche "Wiedergutmachung"
der begangenen Verbrechen, die ab 1988 in nachweisbaren Fällen zumindest
durch einen symbolischen Betrag gewährt wurde und schließlich
zur pauschalen Förderung einer Stiftung führte. Die Homosexuellen-
Verfolgung wurde Gegenstand einschlägiger Forschung an den Universitäten,
auf dem Büchermarkt, in Museumsausstellungen und auf Theaterbühnen
("Bent - Rosa Winkel" von Martin Sherman, deutsche Erstaufführung
1979/80 im Nationaltheater Mannheim). Wichtige Ausstellungen waren das
Berliner "Eldorado" 1984, die Baseler "Männergeschichten" 1988, Amsterdams
"Two of a kind" und die Kölner "Verführte Männer" 1991.
Die öffentliche Erinnerung - unter dem nationalsozialistischen Stigma
des "Rosa Winkels", den die homosexuellen KZ-Häftlinge
--78--
tragen mußten, verhalf zu einem neuen verstärktem Selbstbewußtsein
unter Schwulen und fügte sich ein in den Kampf um Identitätssuche
und öffentlich verbindliche Anerkennung in Deutschland. In manchen
Gedenkstätten wurden Rosa-Winkel-Erinnerungstafeln angebracht, zum
Beispiel in Neuengamme und in Bergen-Belsen. In Münster gab es ebenso
zahlreiche Versuche, der schwulen und lesbischen Opfer des Nationalsozialismus
auf einer Mahntafel zu gedenken, diese blieben aber ohne Erfolg. Eine zentrale
deutsche Mahnstätte zur Erinnerung an den Holocaust der Homosexuellen,
zum Beispiel nach dem Vorbild des niederländischen Homo-Monument in
Amsterdam gibt es ebensowenig.
Neue Schatten: HIV / Aids und Wörner Kießling-Affäre
Tiefe Schatten und Rückschläge brachte aber das HIV/Aids-Syndrom,
dessen tödliche Wirkung unter den Infizierten, doch ebenso die sozialen
und politischen Folgen. Sie belegten die fortwährende, menschenverachtende
Diskriminierung von Homosexuellen, die in einer Erklärung des Erzbischofs
Johannes Dyba deutlich wurde:
"Unsere Vorfahren haben die Geißeln Gottes stets als Anruf Gottes
zur Umkehr aufgefaßt. Für die Aids-Infizierten spielen das Leben
und die Zukunft keine Rolle mehr Sie müssen nicht nur sterben, sie
können auch für die Menschheit nichts mehr einbringen. Sie werden
praktisch ausgelöscht",
so im Bonifatius-Boten (Fulda 1987)! Solcherart "seelsorgerische" und
theologische "Kompetenz "erinnert an die biblisch apokalyptische Warnung
vor den "Wölfen im Schafspelz", blieb aber bis heute auch in der Bischofsstadt
Münster unwidersprochen! - Die neue Notlage beschleunigte einen Entwicklungstrend
zur Gründung schwuler Selbsthilfe-Organisationen, zum Beispiel in
der Deutschen AIDS-Hilfe oder auch im KCM.
Eine weitere schwere Herausforderung war die Wörner-Kießling¬Affäre
1983/84, die das Thema Homosexualität zwar erstmals auf die Titelseiten
in Münster katapultierte, andererseits aber die althergebrachten Vorurteile
verschärfte und in den Dienst tagespolitischer Auseinandersetzungen
zerrte. Konsequenzen einer Neubewertung der Homosexualität oder eine
öffentliche Entschuldigung für die erneute Diffamierung der homosexuellen
Lebensform zum Beispiel in der Presse blieben aber aus. Auch in diesem
Zusammenhang wäre ein Blick über die Grenzen in die
--79--
benachbarten Niederlande hilfreich gewesen, wo einseitige Darstellungen
oder Hetze in den Medien vermieden werden, wo Homosexualität als ein
"normales" oder natürliches Phänomen in die Struktur der Streitkräfte
integriert wurde. Die Amsterdamer Polizeibehörde warb sogar ausdrücklich
um schwule Nachwuchskräfte.
Neue Bücher und Filme - "Ein Käfig voller Narren"
Zweifellos ist die Gesamt-Situation wieder etwas offener und unbefangen
"natürlicher" geworden. Homosexuelle sind als Zielgruppe in der Werbung,
in der Presse und für den Büchermarkt entdeckt worden. Mehrere
münstersche Buchhandlungen haben inzwischen ein festes Sortiment "homosexueller"
Literatur in ihrem ständigen Angebot. Darüber hinaus haben die
schwulen Comics von Ralf König aus dem "benachbarten" Dortmund das
Sortiment auch anderer Buchläden bereichert. - Neuere Film-Produktionen
widmen sich dem Thema mit neuem aufgeschlossenem Verständnis. In der
münsterschen Kino-Szene, ohnehin bekannt und "verwöhnt" durch
ein überdurchschnittlich differenziertes Anspruchsniveau, fanden sie
besonderes Interesse. Auch das gastronomische Angebot veränderte sich
mit einer Vielzahl neuer Gaststätten, manche sogar mit Kleinkunstbühnen
und mit anspruchsvollen Veranstaltungen. Für die Kulturszene vor Ort
war das Musical "Ein Käfig voller Narren" 1986 bis 1988 ein herausragendes
Angebot - mit einem außergewöhnlichen Zuschauerandrang über
drei Spielzeiten. Wurden Humor und Satire des Stückes zwar unterschiedlich
bewertet, so erschien doch eine homosexuelle Partnerschaft hier erstmals
in positivem Licht.
1990 luden sie Städtischen Bühnen zu einer Podiumsdiskussion
mit Rolf Hochhuth, dem Autos des Dramas "Der Stellvertreter" ein. Das Theaterstück
wurde zum zweiten Mal im Großen Haus aufgeführt mit seinen kirchenkritischen
Aussagen, die der Autor noch verschärfte. Wenige Jahre zuvor hatte
Hochhuth auch die Tragik der Homosexuellen-Verfolgung und ihrer Folgen
in einem neuen Werk behandelt: über Alan Turing, den Gründer
der ersten "Computer "-Maschine. Hochhuth wies die entscheidende Bedeutung
Turings während des 2. Weltkrieges nach, als er den Geheim-Code der
nationalsozialistischen Kriegsführung entzifferte und so den alliierten
Kriegserfolg überhaupt erst ermöglichte. Trotz dieser Verdienste
wurde Turing dann aber wegen seiner Homosexualität zur Sterilisation
gezwungen, bald darauf in den Tod getrieben und bis heute ignoriert. So
lehrreich sein Buch über die Homosexualität und deren Unterdrückung
sein mag, so zielte
--80--
Hochhuths Interesse aber auf eine andere Frage nach dem Einfluß
und dem Handlungsspielraum einzelner unter dem kollektiven, gesellschaftlichen
Anpassungsdrang.
Gleichberechtigung in Staat, Gesellschaft und Kunst?
Die Vereinigung der beiden deutschen Staaten gab 1990 den erneuten Anstoß,
die strafrechtliche Sonderbehandlung und Diskriminierung von Homosexuellen
ganz aufzuheben. Wer die Rechtspraxis einiger Nachbarländer, Skandinavien
und die Niederlande zu Rate zieht, wird die Gleichberechtigung aber eher
als ein Menschenrecht oder als eine überfällige Konsequenz der
Menschenwürde fordern, wie sie im Grundgesetz schon erwähnt ist
(Art. 1). In den Niederlanden (Universität Utrecht) werden bereits
Initiativen für die internationale Menschenrechtsbewegung vorbereitet.
Außerdem wird dort an einem besonderen Antidiskriminierungsgesetz
nach dem Vorbild der gesetzlichen Gleichstellung von Mann und Frau gearbeitet.
Das alles kann auch in Deutschland als Vorbild dienen. Vielleicht führt
die Initiative der Bundesländer Berlin, Brandenburg und Niedersachsen
zum Erfolg, die Gleichberechtigung auch hinsichtlich der sexuellen Orientierung
in das neue Grundgesetz aufzunehmen?
Hoffnungsvolle Perspektiven boten kulturelle Maßnahmen, die zur
Versachlichung der Fragen beitragen könnten. Einige große Ausstellungen
der letzten Jahre befaßten sich mit dem "Mann" in Kunst und Gesellschaft,
zum Beispiel "Männersache" 1987 in Hamburg, "Polyktet" 1990 in Frankfurt/Main,
"Männerbünde" 1990 in Köln, "Bertel Thorwaldsen "1992 in
Nürnberg und Schleswig. Unter "schwulem" Blickwinkel war eine Düsseldorfer
Ausstellung von besonderem Interesse. Sie würdigte 1992 den schwulen
Künstler Robert Mapplethorpe in einer eigenen Ausstellung und verglich
dessen Kunst mit dem Werk von Auguste Rodin und der Tradition eines Michelangelo!
Was Rodin und Mapplethorpe miteinander verband war, so die Experten, die
Anbindung an klassische Traditionen, das Interesse an Erotik und Ästhetik
des menschlichen Körpers, auch die provozierende, existentielle Wirkung.
Diese Ausstellung betonte die Parallelen und Gemeinsamkeiten über
die sonstwo immer wieder geschürten hetero- und homosexuellen Grenzen
hinweg und demonstrierte so eine Gleichbehandlung, die die Entwicklung
in anderen Lebensbereichen vorwegnahm.
Was Rodin über Kunst erklärte, fand, so die Veranstalter,
in Mapplethorpe eine zeitgemäß vollendete Ausdrucksform:
--81--
(Abb.: Derrick Cross 1983, fotographiert von Robert Mapplethorpe)
"Kunst ist vor allem Geschmack. Sie ist die Reflexion des Herzens des
Künstlers über die Dinge, die er schafft. Sie ist das Lächeln
der menschlichen Seele. (..) Sie ist der Charme der Gedanken und der Gefühle,
die all dem innewohnen, was dem Menschen von Nutzen ist."
Immerhart Edel van Traute
(Arnold Vogt)
--82--
Literatur (Auswahl)
H. BECK u.a. (Hg.): Polyktet, der Bildhauer der griechischen Klassik.
Ausstellungskatalog für das Liebighaus. Mainz (Verlag Philipp von
Zabern) 1990.
BERLINER MUSEUM / Rolf BOTHE (Hg./Red.): Eldorado. Homosexuelle Frauen
und Männer in Berlin 1850-1950, Geschichte, Alltag und Kultur Ausstellungskatalog.
Berlin (Fröhlich & Kaufmann) 1984.
Cécile BEURDELEY.' L'Amour Bleu. Die homosexuelle Liebe in Kunst
und Literatur des Abendlandes. Übers. v. Doris Plattner und Michael
Lim. Fribourg (Office du Livre) und Köln (DuMont) 1977.
Gerhard BOTT und Heinze SPIELMANN (Hg.): Künstlerleben in Rom.
Bertel Thorwaldsen (1770-1844), der dänische Bildhauer und seine deutschen
Freunde. Ausstellungskatalog für das Germ. Nationalmuseum Nürnberg
und das Schleswig-Holsteinische Landesmuseum Schloß Gottorf in Schleswig.
Nürnberg 1992.
Germano CELANT: Mapplethorpe versus Rodin. Ausstellungskatalog der Kunsthalle
in Düsseldorf. München (Prestel-Verlag) 1991.
Rainer CRONE und Siegfried SALZMANN (Hg.): Rodin, Genius Rodin und Kreativität.
Ausstellungskatalog für die Kunsthalle Bremen und die Städtische
Kunsthalle Düsseldorf München (Prestel-Verlag) 1991.
Martin DANNECKER: Das Drama der Sexualität. Frankfurt/Main (Athenäum)
1987.
GAY JOURNAL - das Blatt homophiler Emanzipation (Heidelberg). Nr. 3/1972.
HIM - das Magazin mit dem Mann (Hamburg). Jahrgänge 1971-75. HSM-WIR-INFOS
1971ff. Hektographische Schriften.
KAKTUS - (hektogr.) Zeitschrift des "Arbeitskreis Homophilie" der HSM
1971ff.
Rolf HOCHHUTH: Alan Turing. Eine Erzählung Reinbek bei Hamburg
1987.
Anneke van de KIEFT und Frans OEHLEN (Hg.): Two of a kind. A histoty
of gays and lesbians in Holland. Ausstellungskatalog für das Historische
Museum Amsterdam mit Unterstützung des Reichskultusministeriums. Amsterdam
1989.
--83--
KNIPPERDOLLING - Münsteraner Generalanzweifler und Selbsthilfe
Netzwerk Münsterland e.V (Hg.): Stattbuch für Münster 1.
Aufl., 1980,
Friedrich KOCH: Sexuelle Denunziation. Die Sexualität in der politischen
Auseinandersetzung. Frankfurt/Main (Syndicat) 1986.
Cornelia LIMPRICHT, Jürgen MÜLLER und Nina OXENIUS (Hg.):
"Verführte Männer". Das Leben der Kölner Homosexuellen im
Dritten Reich. Ausstellungskatalog "Galerie 68/elf "in Köln. Köln
(Kölner Volksblatt Verlag) 1991.
Hans MAYER: Aussenseiter. Frankfurt/Main (Suhrkamp) 1976.
Kynaston McSHINE (Hg.): Andy Warhol - Retrospective. Übers. von
Wolfgang Himmelberg und Helmut Schneider, Ausstellungskatalog des Museums
Ludwig in Köln. Köln, New York und München (Prestel) 1989.
Eugene MONICK: Die Wurzeln der Männlichkeit. Der Phallus in Psychologie
und Mythologie. Übers. v. Jürgen Saupe. München (Kösel)
1990.
Wunibald MÜLLER: Priester als Seelsorger für Homosexuelle.
Eine pastoraltheologische und psychologische Untersuchung. Düsseldorf
(Patmos) 1979.
MUSEUMSPÄDAGOGISCHER DIENST der Kulturbehörde Hamburg (Hg.):
Männersache. Bilder, Welten, Objekte. Ausstellungskatalog. Reinbek
bei Hamburg 1987.
Hans Georg STÜMKE: Homosexuelle in Deutschland. Eine politische
Geschichte. München (Beck) 1989.
Kuno TRÜEB und Stephan MIESCHER (Hg.): Männergeschichten.
Schwule in Basel seit 1930.Ausstellungskatalog der Kulturwerkstatt Kaserne
Basel. Basel (Buchverlag Baseler Zeitung) 1988.
Gisela VÖLGER und Karin von WELCK (Hg.): Männerbande Männerbünde.
Zur Rolle des Mannes im Kulturvergleich. Zweibänd. Ausstellungskatalog
für das Rautenstrauch-Joest¬Museum in Köln. Köln (Rautenstrauch-Joest-Museum)
1990.
Hans Georg WIEDEMANN: Homosexuelle Liebe. Für eine Neuorientierung
in der christlichen Ethik. Stuttgart und Berlin (Kreuz-Verlag) 1982.
|