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Arnold Vogt
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 Historische Identität und Nationalität
 Interkulturelle Veranstaltungsreihe an der Universität Münster
 in: Tribüne, Zeitschrift zum Verständnis des Judentums,
 hg. von Elisabeth Reisch, 30. Jahrgang, Heft 119, 1991,
 ISSN 0041-2716, S. 65 - 69
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Anneliese Manzmann / Arnold Vogt / Karl-Heinz Volkert
Historische Identität und Nationalität
Interkulturelle Veranstaltungsreihe an der Universität Münster

Öffnung von Wissenschaft als Aufgabe

Da Wissenschaft spätestens seit dem Dritten Reich Anlaß hat, sich Gedanken über ihre Aus- und Folgewirkungen zu machen, haben wir uns zu kooperativen Schritten in öffentlichen Räumen (Stadt, Region, Vereine, Verbände, andere Kultureinrichtungen wie Museen, Theater, Ausstellungen u. a.) verpflichtet gefühlt. Man kann nicht nur theoretisch-akademische Arbeit für die Fachgenossen und die »Gelehrten-Republik« leisten, sondern muß sich einer Gesellschaft öffnen, zu der Bürger und Adressaten unterschiedlicher Herkunft und Berufe gehören. Universität und andere Hochschulen haben heute die Aufgabe, solche Erweiterungsperspektiven kraft ihrer interdisziplinären Möglichkeiten anzubieten und auszubauen. Umgekehrt sind andere öffentliche, politisch wirksame Kulturträger gefordert, sich den Erkenntnissen aus Wissenschaft, Forschung und Lehre zu öffnen und zu stellen.

Konkrete Themen zu konkreten Anlässen

Eine interinstitutionelle Gruppe (Stadt Münster, Deutsch-Israelische Gesellschaft, Fachbereich Erziehungswissenschaft u. a.) sah sich veranlaßt, die Identitätsfragen für die Zeitgenossen der deutsch-deutschen Vereinigung und des Golfkrieges zu stellen. Das heißt, daß die neue nationale Spurensuche zwischen West und Ost, aber auch zwischen Vergangenheit (Drittes Reich) und Zukunft (Europäische Gemeinschaft) auf den Weg gebracht werden muß, damit eine längerfristige Standortbestimmung möglich wird. Wo bleibt »Auschwitz«, wenn innerhalb westlicher Wohlstandsgesellschaften zwar politisch Verbeugungen gemacht werden,

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aber die virulenten Rassismen und Nationalismen sich sperrig in den Weg stellen? Wenn nicht jetzt, wann dann und wenn nicht wir, wer sonst? An dieser Fragestellung hängt eigentlich eine wissenschaftliche Perspektive, die historisch konkrete Erlebnisse und Erfahrungen für künftige Handlungsverläufe nutzbar machen möchte. Können wir es uns leisten, daß Wissenschaft an ihren Themen weiterarbeitet (und damit hätte sie noch für die nächsten 50 Jahre zu tun), ohne auf die betroffenen Menschen Rücksicht zu nehmen und sich selber auch gegenüber schwerwiegenden Vorwürfen zu äußern: Mitwirkung an Konzentrationslagern, Euthanasie, Genetik, Giftgas- und Atombombenherstellung in Entwicklungsländern usw. Wenn nicht strukturelle Überlegungen im Rahmen eines Gesamtzusammenhangs getroffen werden, nützen auch humanitäre Anstrengungen aus altruistischen Motiven wenig. Um nicht mißverstanden zu werden: Es geht nicht um Tagespolitik und spektakuläre Aktionen, sondern um Stellungnahmen zu mittel- und längerfristigen Anpassungsprozessen an historische und ökologische Notwendigkeiten mit Hilfe einer Wissenschaft, die sich zentralen Überlebensfragen öffnet.

Ringvorlesungen als Mittel für Kulturtransfer

Es gibt drei »Inter's«, die gesamtuniversitäre Veranstaltung, zu der auch Ringvorlesungen gehören, zum tauglichen Mittel für wissenschaftliche »Übersetzungsleistungen« und gesellschaftliche Öffnungstendenzen machen:
Interdisziplinarität. Durch die Mitwirkung verschiedener Fächer und Fachbereiche ergibt sich über das Expertentum des einzelnen hinaus eine Kapazitätserweiterung, die zu kompetenten Äußerungen führt, wenn man wissenschaftliche Impulsgebung (Fachvortrag), Diskussion (Beteiligung unterschiedlicher Fachvertreter) und Verarbeitung (Begleitveranstaltungen, vertiefendes Seminar, Publikation) parallel anbietet. Speisen, zu denen viele beitragen, werden reichhaltiger.
Interinstitutionalität. Über das Zusammenwirken verschiedener Einrichtungen in der Stadt Münster und darüber hinaus. weil die auswärtigen Gäste, die Vorträge halten, ihrerseits Institutionen vertreten. ergibt sich ein Geflecht von Beziehungen. die so von einem einzelnen nie hergestellt werden könnten. Die Multiplikatorenwirkung, was Anregung und Verbreitung betrifft, ist so enorm. Institutionen sichern eine kontinuierliche Fortsetzung der Fragestellung.
Intersozialität. Da die verschiedenen Einrichtungen ihre Vertreter und Angehörigen zu den Veranstaltungen schicken bzw. diese sich aus Eigeninteresse zu den Vorlesungen einfinden, sind innerhalb der Ringvorlesung unterschiedliche Altersgruppen (Studenten, Berufstätige, Senioren), unterschiedliche Statusgruppen (Akademiker und Nichtakademiker), unterschiedliche Erfahrungsträger angesprochen. Die soziale Mischung garantiert eine differenzierte außeruniversitäre Verbreitung.

Bei den drei »Inter's« darf man sicher sein, daß eine Art Billardeffekt entsteht und die Anstöße, die gegeben werden. weiter wirken, als es im akademisch-universitären Raum möglich wäre.

Ein Themenzyklus als »Probelauf«

Als Testfall und Probelauf wurde die »Historische Identität und Nationalität« Thematik im Wintersemester 1990/91 und im Sommersemester 1991 als Jahreszyklus angefangen. Um es vorwegzunehmen: Mit durchschlagendem, äußerlich schon an der Zahl von ca. 300 Teilnehmern sichtbarem

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Erfolg. Warum? Weil eine politisch-gesellschaftliche Sensibilität für gesamtgesellschaftliche Probleme (Vereinigung BRD-DDR, Nahostkonflikt, bereits vor dem Golfkrieg virulent) auch im Wissenschaftsbereich mehr bewegt, als es bei immanenten herkömmlichen Themenstellungen der Fall ist.

Was heißt historische Identität? 

Ein Jahrhundert, das durch die größten Migrationsbewegungen in der Geschichte (die Völkerwanderung war dagegen nachrangig) belastet ist und das Menschen in nie gekanntem Ausmaß entwurzelt, verschleppt, in neue Aus- und Ansiedlungszusammenhänge gebracht hat, verlangt von einer Forschung zu Identität, Interaktion-Kommunikation, Rollenspezifik, Vorurteilsproblematik, sprachlicher und allgemeiner Sozialisation ein Höchstmaß an Einfühlungsvermögen und Hilfestellungen. Historische Identität kann nur gewonnen werden, wenn das Woher und Wohin soweit geklärt ist, daß ein Hier und Heute befriedigend gelöst werden kann.

Was heißt Nationalität? 

Auf den Pässen steht eine Staatsangehörigkeit, die bei vielen Migranten inhaltlich nicht stimmt. Gestern waren es DDR-Reisepässe oder der UdSSR-Paß, die nicht verliehen wurden, oder die vielen Papiere, die Emigranten bekamen, ohne sich innerlich damit identifizieren zu können. Einerseits verlieren nationale Bezüge an Kraft, andererseits gewinnen sie neue Bedeutung. Bist du ein Deutscher oder ein Israeli oder ein USA-Bürger oder ein Asylbewerber, den man beargwöhnt, Wirtschaftsflüchtling zu sein? Schwierige Fragen, die sich stellen: rechtlich, sprachlich-kulturell, sozial, ökonomisch, international. Anlaß genug, auch bei den Alteingesessenen, die keiner Wanderbewegung unterlagen, die Gretchenfrage nach historischen Wurzeln, Heimat- und Vaterlandsvorstellungen, Staatszugehörigkeit zu stellen.

Das rasende Tempo, das bereits Europa anpeilt, während noch lokale, regionale, nationale Zuständigkeiten ungeklärt sind, ist atemberaubend. Die Wissenschaft weiß auf dieses Dilemma keine Patentantwort, aber sie wird über unsere Veranstaltungen angestoßen, sich über einen Routinebetrieb hinaus darüber transferierbare Gedanken zu machen. Mit aktuellen Fragestellungen über »Historische Identität im vereinigten Europa« wird die Ringvorlesung fortgesetzt.

Die Erfahrungen der Ringvorlesung gaben Anstoß zu einem Ratsbeschluß der Stadt Münster, Wissenschaftstransfer in das Konzept ihrer kommunalen Kulturpolitik aufzunehmen und ihn institutionell zu fördern. Konkrete Konsequenzen im Sinne einer Anlaufstelle für Koordination, Planung, Beratung, Bildungsmaßnahmen sind in Kürze zu erwarten.

Bisherige Veranstaltungen (in Auswahl):

Prof. Dr. Julius H. Schoeps, Duisburg: Deutsche Juden oder Juden in Deutschland? Selbstverständigung mit sich und anderen nach Holocaust und 2. Weltkrieg;
Prof. Dr. Hans Mommsen, Bochum: Nationalismus und Geschichte in der europäischen Entwicklung;
Prof. Dr. Erich Zenger, Münster: Christliche Identität nach Auschwitz; 
Grischa Alroi-Arloser, Bonn: Deutsch-israelische Beziehungen als Element nationaler Identität;
Hans Koschnick, MdB, Bremen: Deutsch-israelische Beziehungen als Element nationaler Identität;
Prof. Dr. Peter Schäfer, Berlin: Judaistik - jüdische Wissenschaft in Deutschland heute (siehe Tribüne Nr. 120/1991);
Doz. Dr. Angelika Timm, Berlin: Der Umgang mit der nationalen Geschichte - Erfahrungen aus der ehemaligen DDR - Zwischen Verdrängung und Staatsideologie;

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Judith Frost, Bonn: Stiftet Krieg Identität? Israelisches Selbstverständnis nach dem Golfkrieg;
Prof. Dr. Karl Hüser, Paderborn: Die Wewelsburg als »Mittelpunkt der Welt« in der SS-Ideologie - Terrorstätte für ein »Kult«-Zentrum 1934-1945 (mit Exkurs.);
Prof. Dr. Yair Hirschfeld, Haifa: Deutsch-israelische Gemeinsamkeiten als Element nationaler Identitätsfindung in Israel;
Prof. Dr. Diethard Aschoff, Münster: Juden in Westfalen - Impulse und Intentionen der Forschung;
Rabbiner Dr. W. Gunther Plaut, Ontario: Das neue Deutschland in der Perspektive eines ehemaligen Münsteraners (Besuch ehem. jüd. Bürger in Münster);
Prof. Dr. Raymund Schwager, Innsbruck / Stanford (USA): Christliche Identität - Gewalt und Erlösung in den Biblischen Schriften;
Dr. Frank Rieger, Hannover: Woody Allen - ein jüdischer Philosoph? Säkularisierte Religiosität und Identitätssuche in der Filmkunst (Film-Workshop);
Prof. Dr. Michael Wolffsohn, München: Deutschland - vom strammen Max zum Softy?

Weitere Informationen sind über die Arbeitsgemeinschaft Münster der Deutsch-Israelischen Gesellschaft, Kerkheideweg 3d, D-4400 Münster, erhältlich.
 
 
 
 

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