Anneliese Manzmann /
Arnold Vogt / Karl-Heinz Volkert
Historische Identität und
Nationalität
Interkulturelle Veranstaltungsreihe
an der Universität Münster
Öffnung von Wissenschaft als Aufgabe
Da Wissenschaft spätestens seit dem Dritten
Reich Anlaß hat, sich Gedanken über ihre Aus- und Folgewirkungen
zu machen, haben wir uns zu kooperativen Schritten in öffentlichen
Räumen (Stadt, Region, Vereine, Verbände, andere Kultureinrichtungen
wie Museen, Theater, Ausstellungen u. a.) verpflichtet gefühlt. Man
kann nicht nur theoretisch-akademische Arbeit für die Fachgenossen
und die »Gelehrten-Republik« leisten, sondern muß sich
einer Gesellschaft öffnen, zu der Bürger und Adressaten unterschiedlicher
Herkunft und Berufe gehören. Universität und andere Hochschulen
haben heute die Aufgabe, solche Erweiterungsperspektiven kraft ihrer interdisziplinären
Möglichkeiten anzubieten und auszubauen. Umgekehrt sind andere öffentliche,
politisch wirksame Kulturträger gefordert, sich den Erkenntnissen
aus Wissenschaft, Forschung und Lehre zu öffnen und zu stellen.
Konkrete Themen zu konkreten Anlässen
Eine interinstitutionelle Gruppe (Stadt Münster,
Deutsch-Israelische Gesellschaft, Fachbereich Erziehungswissenschaft u.
a.) sah sich veranlaßt, die Identitätsfragen für die Zeitgenossen
der deutsch-deutschen Vereinigung und des Golfkrieges zu stellen. Das heißt,
daß die neue nationale Spurensuche zwischen West und Ost, aber auch
zwischen Vergangenheit (Drittes Reich) und Zukunft (Europäische Gemeinschaft)
auf den Weg gebracht werden muß, damit eine längerfristige Standortbestimmung
möglich wird. Wo bleibt »Auschwitz«, wenn innerhalb westlicher
Wohlstandsgesellschaften zwar politisch Verbeugungen gemacht werden,
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aber die virulenten Rassismen und Nationalismen
sich sperrig in den Weg stellen? Wenn nicht jetzt, wann dann und wenn nicht
wir, wer sonst? An dieser Fragestellung hängt eigentlich eine wissenschaftliche
Perspektive, die historisch konkrete Erlebnisse und Erfahrungen für
künftige Handlungsverläufe nutzbar machen möchte. Können
wir es uns leisten, daß Wissenschaft an ihren Themen weiterarbeitet
(und damit hätte sie noch für die nächsten 50 Jahre zu tun),
ohne auf die betroffenen Menschen Rücksicht zu nehmen und sich selber
auch gegenüber schwerwiegenden Vorwürfen zu äußern:
Mitwirkung an Konzentrationslagern, Euthanasie, Genetik, Giftgas- und Atombombenherstellung
in Entwicklungsländern usw. Wenn nicht strukturelle Überlegungen
im Rahmen eines Gesamtzusammenhangs getroffen werden, nützen auch
humanitäre Anstrengungen aus altruistischen Motiven wenig. Um nicht
mißverstanden zu werden: Es geht nicht um Tagespolitik und spektakuläre
Aktionen, sondern um Stellungnahmen zu mittel- und längerfristigen
Anpassungsprozessen an historische und ökologische Notwendigkeiten
mit Hilfe einer Wissenschaft, die sich zentralen Überlebensfragen
öffnet.
Ringvorlesungen als Mittel für Kulturtransfer
Es gibt drei »Inter's«, die gesamtuniversitäre
Veranstaltung, zu der auch Ringvorlesungen gehören, zum tauglichen
Mittel für wissenschaftliche »Übersetzungsleistungen«
und gesellschaftliche Öffnungstendenzen machen:
Interdisziplinarität. Durch die Mitwirkung
verschiedener Fächer und Fachbereiche ergibt sich über das Expertentum
des einzelnen hinaus eine Kapazitätserweiterung, die zu kompetenten
Äußerungen führt, wenn man wissenschaftliche Impulsgebung
(Fachvortrag), Diskussion (Beteiligung unterschiedlicher Fachvertreter)
und Verarbeitung (Begleitveranstaltungen, vertiefendes Seminar, Publikation)
parallel anbietet. Speisen, zu denen viele beitragen, werden reichhaltiger.
Interinstitutionalität. Über
das Zusammenwirken verschiedener Einrichtungen in der Stadt Münster
und darüber hinaus. weil die auswärtigen Gäste, die Vorträge
halten, ihrerseits Institutionen vertreten. ergibt sich ein Geflecht von
Beziehungen. die so von einem einzelnen nie hergestellt werden könnten.
Die Multiplikatorenwirkung, was Anregung und Verbreitung betrifft, ist
so enorm. Institutionen sichern eine kontinuierliche Fortsetzung der Fragestellung.
Intersozialität. Da die verschiedenen
Einrichtungen ihre Vertreter und Angehörigen zu den Veranstaltungen
schicken bzw. diese sich aus Eigeninteresse zu den Vorlesungen einfinden,
sind innerhalb der Ringvorlesung unterschiedliche Altersgruppen (Studenten,
Berufstätige, Senioren), unterschiedliche Statusgruppen (Akademiker
und Nichtakademiker), unterschiedliche Erfahrungsträger angesprochen.
Die soziale Mischung garantiert eine differenzierte außeruniversitäre
Verbreitung.
Bei den drei »Inter's« darf man sicher
sein, daß eine Art Billardeffekt entsteht und die Anstöße,
die gegeben werden. weiter wirken, als es im akademisch-universitären
Raum möglich wäre.
Ein Themenzyklus als »Probelauf«
Als Testfall und Probelauf wurde die »Historische
Identität und Nationalität« Thematik im Wintersemester
1990/91 und im Sommersemester 1991 als Jahreszyklus angefangen. Um es vorwegzunehmen:
Mit durchschlagendem, äußerlich schon an der Zahl von ca. 300
Teilnehmern sichtbarem
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Erfolg. Warum? Weil eine politisch-gesellschaftliche
Sensibilität für gesamtgesellschaftliche Probleme (Vereinigung
BRD-DDR, Nahostkonflikt, bereits vor dem Golfkrieg virulent) auch im Wissenschaftsbereich
mehr bewegt, als es bei immanenten herkömmlichen Themenstellungen
der Fall ist.
Was heißt historische Identität?
Ein Jahrhundert, das durch die größten
Migrationsbewegungen in der Geschichte (die Völkerwanderung war dagegen
nachrangig) belastet ist und das Menschen in nie gekanntem Ausmaß
entwurzelt, verschleppt, in neue Aus- und Ansiedlungszusammenhänge
gebracht hat, verlangt von einer Forschung zu Identität, Interaktion-Kommunikation,
Rollenspezifik, Vorurteilsproblematik, sprachlicher und allgemeiner Sozialisation
ein Höchstmaß an Einfühlungsvermögen und Hilfestellungen.
Historische Identität kann nur gewonnen werden, wenn das Woher und
Wohin soweit geklärt ist, daß ein Hier und Heute befriedigend
gelöst werden kann.
Was heißt Nationalität?
Auf den Pässen steht eine Staatsangehörigkeit,
die bei vielen Migranten inhaltlich nicht stimmt. Gestern waren es DDR-Reisepässe
oder der UdSSR-Paß, die nicht verliehen wurden, oder die vielen Papiere,
die Emigranten bekamen, ohne sich innerlich damit identifizieren zu können.
Einerseits verlieren nationale Bezüge an Kraft, andererseits gewinnen
sie neue Bedeutung. Bist du ein Deutscher oder ein Israeli oder ein USA-Bürger
oder ein Asylbewerber, den man beargwöhnt, Wirtschaftsflüchtling
zu sein? Schwierige Fragen, die sich stellen: rechtlich, sprachlich-kulturell,
sozial, ökonomisch, international. Anlaß genug, auch bei den
Alteingesessenen, die keiner Wanderbewegung unterlagen, die Gretchenfrage
nach historischen Wurzeln, Heimat- und Vaterlandsvorstellungen, Staatszugehörigkeit
zu stellen.
Das rasende Tempo, das bereits Europa anpeilt,
während noch lokale, regionale, nationale Zuständigkeiten ungeklärt
sind, ist atemberaubend. Die Wissenschaft weiß auf dieses Dilemma
keine Patentantwort, aber sie wird über unsere Veranstaltungen angestoßen,
sich über einen Routinebetrieb hinaus darüber transferierbare
Gedanken zu machen. Mit aktuellen Fragestellungen über »Historische
Identität im vereinigten Europa« wird die Ringvorlesung fortgesetzt.
Die Erfahrungen der Ringvorlesung gaben Anstoß
zu einem Ratsbeschluß der Stadt Münster, Wissenschaftstransfer
in das Konzept ihrer kommunalen Kulturpolitik aufzunehmen und ihn institutionell
zu fördern. Konkrete Konsequenzen im Sinne einer Anlaufstelle für
Koordination, Planung, Beratung, Bildungsmaßnahmen sind in Kürze
zu erwarten.
Bisherige Veranstaltungen (in Auswahl):
Prof. Dr. Julius H. Schoeps, Duisburg: Deutsche
Juden oder Juden in Deutschland? Selbstverständigung mit sich und
anderen nach Holocaust und 2. Weltkrieg;
Prof. Dr. Hans Mommsen, Bochum: Nationalismus
und Geschichte in der europäischen Entwicklung;
Prof. Dr. Erich Zenger, Münster: Christliche
Identität nach Auschwitz;
Grischa Alroi-Arloser, Bonn: Deutsch-israelische
Beziehungen als Element nationaler Identität;
Hans Koschnick, MdB, Bremen: Deutsch-israelische
Beziehungen als Element nationaler Identität;
Prof. Dr. Peter Schäfer, Berlin: Judaistik
- jüdische Wissenschaft in Deutschland heute (siehe Tribüne Nr.
120/1991);
Doz. Dr. Angelika Timm, Berlin: Der Umgang mit
der nationalen Geschichte - Erfahrungen aus der ehemaligen DDR - Zwischen
Verdrängung und Staatsideologie;
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Judith Frost, Bonn: Stiftet Krieg Identität?
Israelisches Selbstverständnis nach dem Golfkrieg;
Prof. Dr. Karl Hüser, Paderborn: Die Wewelsburg
als »Mittelpunkt der Welt« in der SS-Ideologie - Terrorstätte
für ein »Kult«-Zentrum 1934-1945 (mit Exkurs.);
Prof. Dr. Yair Hirschfeld, Haifa: Deutsch-israelische
Gemeinsamkeiten als Element nationaler Identitätsfindung in Israel;
Prof. Dr. Diethard Aschoff, Münster: Juden
in Westfalen - Impulse und Intentionen der Forschung;
Rabbiner Dr. W. Gunther Plaut, Ontario: Das neue
Deutschland in der Perspektive eines ehemaligen Münsteraners (Besuch
ehem. jüd. Bürger in Münster);
Prof. Dr. Raymund Schwager, Innsbruck / Stanford
(USA): Christliche Identität - Gewalt und Erlösung in den Biblischen
Schriften;
Dr. Frank Rieger, Hannover: Woody Allen - ein
jüdischer Philosoph? Säkularisierte Religiosität und Identitätssuche
in der Filmkunst (Film-Workshop);
Prof. Dr. Michael Wolffsohn, München: Deutschland
- vom strammen Max zum Softy?
Weitere Informationen sind über die Arbeitsgemeinschaft
Münster der Deutsch-Israelischen Gesellschaft, Kerkheideweg 3d, D-4400
Münster, erhältlich.
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