Arnold Vogt
Volle Gleichstellung nie erreicht
Chancen und Grenzen jüdischer
Religion im deutschen Militär bis zum Jahr 1918
(Fortsetzung aus Heft
99 und Schluß)
(2. 4. DIE WACHSENDEN SCHWIERIGKEITEN DER JUDEN
I. EINLEITUNG)
II.
Positive Resonanz fanden die jüdischen Forderungen in einigen Garnisonen,
zum Beispiel in Aschaffenburg, München, Würzburg, Oldenburg und
Wilhelmshaven, besonders aber im Reichstag. Dort vertrat das Zentrum eine
aktive militärkirchenpolitische Position und griff wiederholt die
religiösen Probleme jüdischer Militärpersonen auf. Dabei
wurde auch der Versuch unternommen, regierungsoffizielle Argumentationsmuster
für eine jüdische Militärseelsorge in Anspruch zu nehmen:
Forderung nach tatsächlicher Anwendung einschlägiger Dienstvorschriften,
nach militärdienstlicher Förderung des (freiwilligen) jüdischen
Gottesdienstbesuches durch Dienstbefreiung und durch allmonatlichen Synagogenzwang
(Führen/Kommandieren der Soldaten zur Synagoge durch einen Truppenoffizier),
Integration der jüdischen Religion in den militärpolitischen
Antisozialismus und in entsprechende militärpädagogische Konzeptionen
analog den christlichen Bekenntnissen (anstatt der beschränkenden
Praxis, der Individualisierung und Privatisierung des Judentums im Militär).
Bekräftigend wurden hohe Autoritäten, zum Beispiel Kaiser Wilhelm
I. (seine Maxime: die »Religion solle dem Volk erhalten werden«),
das Vorbild englischer, bayerischer und württembergischer Dienstpraxis
überhaupt, und die Glaubwürdigkeit und Konsequenz preußisch-deutscher
Militärseelsorge zur Sprache gebracht. Sie sollte nach den Vorstellungen
der Zentrumspartei nicht auf die christlichen Kirchen beschränkt,
sondern gleichermaßen den Juden zugute kommen. Außer vom Zentrum
wurden die Schwierigkeiten jüdischer Militärpersonen im Reichstag
besonders von Sozialdemokraten erörtert. Sie entwickelten ...
3. DER JÜDISCHE ANSPRUCH IN DER KRIEGSSEELSORGE 1914/18
Durch den Ersten Weltkrieg gerieten die Juden in eine völlig neue
Situation. Sie waren erstmals mit einer größeren Personenzahl,
nämlich allen männlichen kriegsdienstpflichtigen Glaubensangehörigen,
im Militärwesen vertreten, so daß ihre Ansprüche nach angemessener,
eigenständiger religiöser Betreuung neues, stärkeres Gewicht
erhielten. Reichte es aus, um eine Gleichberechtigung auch unter Kriegsverhältnissen
herbeizuführen? Dazu hätten die traditionelle Privilegierung
der großen christlichen Kirchen sowie das minderheitenfeindliche
Prinzip militärischer Einheitlichkeit gelockert werden müssen.
Die Proklamation des religiösen und parteipolitischen »Burgfriedens«
durch Kaiser Wilhelm II. schien in diese Richtung zu weisen. ...
3. 1. DIE ORGANISATION VON FELDRABBINERN
In den letzten Jahren vor dem Ersten Weltkrieg war für die religiöse
Betreuung jüdischer Soldaten eine günstige Ausgangsposition geschaffen
worden, teils durch kriegsministerielle Entscheidungen wie in Preußen,
Bayern oder Württemberg, aber auch durch besondere Traditionen in
einzelnen Garnisonen. Für die jüdischen Gemeinden galt es ...
I.
Auch in der späteren Forschung wurden die »Feldrabbiner«
gelegentlich erwähnt und der Eindruck vermittelt, es handle sich angeblich
um eine normale oder selbstverständliche Einrichtung. Tatsächlich
waren aber für ihre Zulassung wochenlange schwierige Verhandlungen
erforderlich. Für die weitere Ausgestaltung zogen sich die kämpferischen
Auseinandersetzungen während der ganzen Kriegsjahre hin. Nach dem
zeitgenössischen Urteil ...
II.
Indem der »Verband der Deutschen Juden« alle als jüdische
Feldgeistliche in Betracht kommenden Persönlichkeiten zentral in einer
Liste erfaßte und sie den Militärbehörden mitteilte, schuf
er wichtige praktische Voraussetzungen für eine Organisation von Feldrabbinern;
denn dazu fehlten die entsprechenden Vorbereitungen und Bestimmungen über
die Mobilmachung, wie sie für die Institution der christlichen Kriegsseelsorge
bestanden. Für Rabbiner galt zwar auch das Prinzip der Militärfreiheit
wie für Geistliche anderer mit Korporationsrechten ausgestatteter
Religionsgesellschaften, ...
Abb.: Deutsche Feldrabbiner im Ersten Weltkrieg
...
III.
Im Militärwesen wurden Geistliche, welcher Religion oder Konfession
auch immer sie angehörten, ihre Amtshandlungen und ihr äußeres
Auftreten stets nach Vorstellungen beurteilt und bewertet, die in dem durch
jahrzehntelange Tradition etablierten Erscheinungsbild des (evangelischen
oder katholischen) Militärgeistlichen vorgegeben waren. Für die
Entwicklung davon abweichender (jüdischer) Sonderformen ...
3. 2. KRIEGSSEELSORGE ZU EINER STÄNDIGEN INSTITUTION
In der jüdischen Feldseelsorge wurden die Orientierung nach christlichen
Militärkirchentraditionen und deren getreue Nachbildung durch die
erwähnten reichsgesetzlichen Bestimmungen, militärischen Dienstgepflogenheiten
und -strukturen sehr begünstigt und im zeitgenössischen Empfinden
als ein wichtiger Schritt zur militärpolitischen Gleichberechtigung
der Juden betrachtet. Diese Anschauungsweise begründete das entscheidende
Motiv für spätere Bemühungen um einen Ausbau und die Verbesserung
der Feldrabbiner-Organisation. Sie hingen wesentlich von zwei Fragen ab,
ob es gelingen würde, die Militärbehörden zur offiziellen
Anerkennung eines jüdischen Rechtsanspruches zu bewegen, und ob die
jüdischen Kultusbehörden und Gemeinden sich auf gemeinsame Gestaltungsgrundsätze
einigen konnten.
I.
Seit Anfang 1915 bemühten sich Rabbiner, jüdische Gemeinden und
Verbände meist unabhängig voneinander in oft wiederholten Initiativen
um die staatliche Anerkennung ihrer Forderungen. Dabei hatte der »Verband
der Deutschen Juden« wieder ...
II.
Aus jüdischer Sicht brachte die Kriegsseelsorge nicht nur eine Erfüllung
militär- und nationalpolitischer Hoffnungen, sondern sie berührte
auch theologische Probleme. Sie waren Gegenstand harter Auseinandersetzungen
während einer Konferenz, zu der der »Rabbinerverband in Deutschland«
zum 9. und 10. Mai 1916 nach Berlin eingeladen hatte. ...
4. ZUSAMMENFASSUNG
Rückblickend lassen sich die Chancen und Grenzen jüdischer
Religion im Militär deutscher Staaten nach drei Entwicklungsphasen
betrachten:
1. Die Anfänge jüdisch-religiöser Betreuung beschränkte
sich im 19. Jahrhundert auf einige private Inititativen und sporadische
offizielle Regelungen (synagogale Totengedächtnisfeier, Errichtung
von Kriegerepitaphien seit 1813, religiöse Bekräftigung militärischer
Dienstverpflichtungen und Vereidigung durch Rabbiner seit 1819). In der
folgenden »restaurativen« Entwicklung wurden Juden aus dem
Militär hinausgedrängt oder massiv benachteiligt (Dienstentlassungen,
zurückhaltende Rekrutierung, Beförderungsverbot, keine Zivilanstellung
für jüdische Kriegsteilnehmer, öffentliche Diffamierung
und Infragestellung jüdischer Militärtauglichkeit). Einen Höhepunkt
bildete die preußische »Militärkirchenordnung« von
1832, die evangelische Soldaten privilegierte, Sonderregelungen nur für
die katholische Minderheit vorsah und Juden gar nicht berücksichtigte
(ausschließliche Anstellung evangelischer Militärgeistlicher
im Frieden, evangelischer Pfarrzwang). Dazu ergänzend stellte das
Kriegsministerium lediglich Dienstbefreiung an jüdischen Feiertagen
in Aussicht. Als 1868 der evangelische Pfarrzwang (zugunsten der Katholiken)
gelockert wurde, blieben die Juden ausgeschlossen. Auch das Emanzipationsgesetz
von 1847 und die 48er Revolution verbesserten die jüdisch-religiösen
Verhältnisse im preußischen Militär nicht. Es blieb bei
der noch 1846 erneuerten Verpflichtung der Rabbiner, die Vereidigung jüdischer
Rekruten auf den Monarchen anstatt auf die neue Verfassung durch eine religiöse
Unterweisung zu verstärken.
2. Ein allmählicher Wandel zeichnete sich außerhalb Preußens
ab, als sich 1859 in Österreich und 1862/65 in der Unionsarmee der
amerikanischen Nordstaaten eine reguläre deutschsprachige jüdische
Feldseelsorge formierte. Große Hoffnungen waren jüdischerseits
mit den national-deutschen Einigungskriegen 1864, 1866, 1870/71 verbunden,
an denen Juden wieder mit vielen Tapferkeitsauszeichnungen teilnahmen,
zuletzt auch unter der religiösen Betreuung von drei preußischen
Feldrabbinern. In den Nachkriegsjahren schien es, daß die deutschen
Kriegsministerien an dem regulären Institut jüdischer Feldgeistlicher
festhielten. Mit dem jüdisch-deutschen Kriegseinsatz wuchs ein erstarktes
national-deutsches Selbstbewußtsein unter Juden mit der Forderung
nach voller Gleichberechtigung, wie sie außerhalb des Militärs
verfassungsrechtlich verankert war. Dagegen richteten sich aber die Tradition
des militärisch-zivilen Dualismus und — mit zunehmender Stärke
— ein Antisemitismus im Militär. Die jüdisch-religiösen
Entwicklungschancen verschlechterten sich zusätzlich infolge der Wilhelminischen
Militärkirchenpolitik, dem Bemühen, die christliche »Religion«
und einen monarchistischen Patriotismus in den Dienst des innenpolitischen,
ideologischen Abwehrkampfes gegen die Sozialdemokratie zu stellen.
3. Erst in den Vorkriegsjahren 1911/13 gelang ein Teilerfolg, der jüdischen
Forderung nach Gleichberechtigung mit den christlichen Kirchen die kriegsministerielle
Anerkennung zu verschaffen (grundsätzliche Dienstbefreiung an jüdischen
Feiertagen, amtliche Rücksichtnahme auf rituelle Vorschriften, Aushändigung
einer Namensliste der jüdischen Militärpersonen an zivile Rabbiner).
So wurde den Juden endlich zugestanden, was für andere vergleichbare
Minderheiten — preußische Katholiken, österreichische Protestanten
oder Juden — bereits seit viereinhalb Jahrzehnten galt. Ihre dienstpraktische
Anwendung wurde jedoch durch den bald darauf folgenden Kriegsausbruch 1914
unmöglich. In den Massenheeren des Ersten Weltkrieges waren Juden
in großer Personenzahl vertreten, so daß für ihre religiöse
Betreuung eine besondere Organisation erforderlich wurde. Sie war zugleich
ein unabweisbares Bedürfnis aufgrund der Kriegsnot und des nationalen
Stimmungsbildes. So wurden Feldrabbiner für die jüdische Seelsorge
zugelassen, obwohl dazu institutionelle und juristische Voraussetzungen
fehlten. Die organisatorische und dienstpraktische Entwicklung jüdischer
Kriegsseelsorge entwickelte sich weitgehend nach dem Vorbild der regulären
christlichen Militärkirchentraditionen (vgl. die einschlägigen
Debatten des »Rabbinerverbandes«).
Der »Verband der Deutschen Juden« und einige Kultusbehörden
kämpften vor allem auch für die staatliche Anerkennung eines
Rechtsanspruches auf jüdische Militärseelsorge, wie er mittelbar
aus den bestehenden Gesetzen (vgl. Deutsche Wehrordnung, Reichsmilitärgesetz)
oder in Analogie zum christlichen Militärkirchenwesen nach österreichischem
Vorbild abzuleiten war und de facto in einigen Garnisonen beachtet wurde.
Eine volle und gesicherte Gleichberechtigung jüdischer und christlicher
Feldgeistlicher, wie sie in Österreich-Ungarn seit 1868 bestand, wurde
im deutschen Kriegsheer jedoch nicht erreicht. Schwierig ist die Beurteilung
der Frage, welche Erfolgsaussichten die Pläne und Entwicklungstendenzen
zu einer ständigen jüdischen Militärseelsorge für ein
späteres Friedensverhältnis hatten (vgl. günstige Auffassung
im bayerischen Kultusministerium, das fortgeschrittene Diskussionsniveau
und differenzierte Problembewußtsein innerjüdischer, verbandsinterner
Auseinandersetzungen, die international herausragenden Leistungen deutscher
jüdischer Kriegsseelsorge). Dagegen richtete sich aber die prinzipielle,
hartnäckige Weigerung der Militärbehörden, von einer exklusiv
christlichen Rechtsauffassung abzuweichen, die jüdische Seelsorge
— entsprechend dem Bevölkerungsanteil, doch grundsätzlich gleichberechtigt
mit christlichen Einrichtungen — in das national- und militärpolitische
Kalkül positiv einzubeziehen. Dagegen war ein wirkungsvoller antisemitischer
Widerstand zu erwarten, der u. a. die mysteriöse Judenzählung
des preußischen Kriegsministeriums bewirkte und auch in der »Weimarer
Zeit« in der Reichswehrführung weitreichendes Verständnis
fand.
24 Anmerkungen
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