Herbert Neseker unter Mitarbeit von Arnold
Vogt
Zwischen Freiheit und
Bürokratie. Ist die Freie Wohlfahrtspflege noch frei?
Texte aus dem Landeshaus LWL, Heft 10
Herausgeber: Der Direktor des Landschaftsverbandes
Westfalen-Lippe, Pressestelle
Münster o. J. (2. Aufl. 1987), 55
Seiten
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Dokumentation: |
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Spitzenverbände der Freien Wohlfahrtspflege |
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16-19 |
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Daten zu Eingliederungshilfe und Hilfe
zur Pflege -
Beispiele für das gemeinsame soziale
Engagement
der Freien und Öffentlichen Wohlfahrtspflege |
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20-41 |
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"Allgemeine Vereinbarung" über Pflegesätze,
d. h. über die Rechtsbeziehungen
zwischen
Kostenträgern und Heimträgern |
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42-52 |
Versachlichung
Ein Thema ist es in der Fachöffentlichkeit schon seit langem. Skandale
und Affären haben die Frage in den letzten Monaten mehr und mehr auch
in die übrige Öffentlichkeit getragen: Ist die Freie Wohlfahrtspflege
noch frei? Wie steht sie da im Spannungsverhältnis zwischen Freiheit
und Bürokratie? Sollen die Wohlfahrtsverbände und die ihnen nachgeordneten
Pflegeheime mehr von Behörden kontrolliert werden, oder sollen die
Behörden die bürokratischen Auflagen doch mehr lockern? Für
beide Ansichten gibt es gewichtige Argumente.
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Die Kontrolle über die Einrichtungen der Freien Wohlfahrtspflege
liegt bei den Kreisen und kreisfreien Städten. Da hat der Landschaftsverband
Westfalen-Lippe im Prinzip nichts mitzureden.
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Er ist als Träger der überörtlichen Sozialhilfe im wesentlichen
nur Zahlvater.
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Gerade darum legte Herbert Neseker, Direktor des Landschaftsverbandes
Westfalen-Lippe, in seiner Rede am 17. Juli 1986 vor der Landschaftsversammlung
ein eindeutiges Bekenntnis zur Freien Wohlfahrtspflege ab. Aber, er kritisiert
auf den folgenden Seiten auch ganz deutlich die Regelverstöße,
die einzelnen freien Trägern im Rahmen der ihnen gewährten Freiheit
unterlaufen.
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Es ist nicht mehr Bürokratie, sondern mehr Eigenverantwortung
gefordert, wenn einzelne Organisationen die Glaubwürdigkeit des jeweiligen
Spitzenverbandes in Anspruch nehmen, ihm andererseits aber keine ausreichenden
Aufsichtsmöglichkeiten einräumen, wo Spitzenverbände sich
dann aus der Verantwortung ziehen, wenn sie für Fehler und Mißbrauch
öffentlicher Gelder einstehen müssen. Die Freie Wohlfahrtspflege,
so die Forderung des LWL, sollte sich von dubiosen Einrichtungen zweifelsfrei
distanzieren.
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Der Landschaftsverband Westfalen-Lippe will mit dieser kleinen Broschüre
zur Versachlichung der Diskussion beitragen.
Reinhold W. Vogt
Pressestelle
--3--
Ist die Freie Wohlfahrtspflege noch frei?
Über 76 % des Gesamtausgabenvolumens des Landschaftsverbandes Westfalen-Lippe
werden für die Bereiche „Soziales und Gesundheit" benötigt; relativ
und absolut ist die Tendenz stark ansteigend. Riesige Beträge erhält
jährlich die Freie Wohlfahrtspflege und das hat seine Gründe.
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Die Freie Wohlfahrtspflege ist -nicht nur in Westfalen-Lippe, sondern
auch in anderen Regionen ein beachtlicher Partner und sozialer Dienstleistungsträger,
zusammengeschlossen auf Bundesebene in den sechs großen Spitzenverbänden
des Diakonischen Werkes der Evangelischen Kirche in Deutschland, des Caritas-Verbandes,
der Zentralwohlfahrtsstelle der Juden, des Deutschen Roten Kreuzes, der
Arbeiterwohlfahrt und des Deutschen Paritätischen Wohlfahrtsverbandes.
Sie können eine rasante Aufwärtsentwicklung verzeichnen und erscheinen
insgesamt bundesweit unter den bedeutenden Wirtschaftszweigen an fünfter
Stelle. Sie sind größer als die Deutsche Bundespost, größer
als der ganze Wirtschaftssektor Land- und Forstwirtschaft oder als die
Kreditinstitute -mit 650.000 Angestellten sogar größer als die
Bundeswehr (1). Mit einem breitgefächerten
Angebot sozialer Dienste sind sie einem großen Wirtschaftskonzern
vergleichbar. Mit einem Jahresumsatz von über 27 Milliarden DM übertreffen
sie den Haushalt mittlerer Bundesländer, zum Beispiel des Landes Niedersachsen
(2).
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Angesichts dieser Größenverhältnisse hat die Frage
nach der „Freiheit" der Freien Wohlfahrtspflege besonderes Gewicht. Ist
sie noch „frei" genug gegenüber volkswirtschaftlich-finanziellen oder
fachlichen Zwängen? Wird sie noch aktuellen modernen Aufgaben und
sozialpolitischen Erfordernissen kleineren, individuellen Zuschnitts vor
Ort gerecht? Oder haben die freien Verbände ihre ursprünglichen,
traditionellen Anliegen aus den Augen verloren?
(1)
Gesamtstatistik der Einrichtungen der Freien Wohlfahrtspflege, hg. v. der
Bundesarbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege, Bonn 1984, S. 5
Die Freie Wohlfahrtspflege, eine Arbeitshilfe, hg. von
der Bundesarbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege, Freiburg, 1983,
S. 55
(2) Statistisches
Landesamt (Hg.), Handbuch der Finanzstatistik Rheinland-Pfalz, Bad Ems
1985, S. 29
--4--
Vor mehr als fünfundzwanzig Jahren beschrieb die langjährige
Geschäftsführerin und frühere Bundesvorsitzende der Arbeiterwohlfahrt
Lotte Lemke einmal treffend die Freie Wohlfahrtspflege in ihren ursprünglichen
wesentlichen Merkmalen:
1. Sie sucht ihre Aufgaben selbständig und aus eigener Anschauung
dort, wo Menschen in Not sind,
2. sie leistet Hilfe unbürokratisch, effektiv durch ehrenamtliche,
engagierte Mitarbeiter durch sogenannte „persönliche Hilfe" oder sonstige
Unterstützung,
3. sie ist in ihren Aktivitäten weitgehend unabhängig und
„frei" dank des ehrenamtlichen, unentgeltlichen Potentials und der Eigenfinanzierung
aus Spenden, gelegentlichen Leistungsvergütungen und teils sogar aus
eigenem Vermögen (3).
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Mit diesen drei Eigenschaften zeichneten sich soziale Einrichtungen
freier Träger hervorragend aus. Niemand sonst konnte Ähnliches
leisten. Und besonders in Westfalen-Lippe können wir auf eine reiche
Tradition freier, sozialer Initiativen zurückblicken. Dazu gehören
zum Beispiel die großen kirchlichen Einrichtungen in Ostwestfalen
und im Münsterland. Auch das Institut der kirchlichen Gemeindeschwester
und die kirchliche Altenhilfe sind hier zu nennen.
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Viele dieser Einrichtungen hatten in der sozialen, medizinischen oder
erzieherischen Entwicklung ohne Zweifel eine Schrittmacherwirkung und wurden
vom Staat ermuntert, gefördert, übernommen oder weiterentwickelt,
wie zum Beispiel die Einrichtungen der Blinden und Gehörlosenbildung
durch die damalige Provinzialverwaltung (4).
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Aber was ist aus der Freien Wohlfahrtspflege in Westfalen-Lippe geworden?
Sind die erwähnten drei Elemente der Aufgabenautonomie, des ehrenamtlichen
Prinzips und der finanziellen Unabhängigkeit heute noch verwirklicht?
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Für den Bereich der stationären Versorgung läßt
sich das Folgende feststellen:
1. Das ehrenamtliche Prinzip hat sein früheres Gewicht verloren.
Es ist weitgehend verdrängt worden von wissenschaftlich hochqualifiziertem
Fach- und Pflegepersonal und von einem ebenso kostenintensiven bürokratischen
Apparat. Die frühere Selbstlosigkeit kirchlicher Dienste mußte
dem gängigen Tarifniveau weichen.
2. Die großen Krankenhäuser und Pflegeheime können
nicht mehr nur aus Spenden oder privatem Vermögen unterhalten werden.
Die Einrichtungen werden vollfinanziert von der öffentlichen Hand.
3. Soziale und psychiatrische Aufgaben werden heute mit Hilfe eines
reichen Erfahrungsschatzes und
(3)
Lemke, Lotte, Unsere Arbeit im Blick auf die Notwendigkeiten unserer Zeit,
Vortrag auf der Reichskonferenz der Arbeiterwohlfahrt, 1959 in Wiesbaden,
Heft 12 der Schriften der Arbeiterwohlfahrt, Bonn 1959, S. 12-24
(4) Hobrecker, Fürsorge
für Blinde, in: Hammerschmidt, Die provinzielle Selbstverwaltung Westfalens,
aus Anlaß des 50. Zusammentritts des westf. Provinziallandtages,
Münster 1909, S. 225
--5--
auf der Grundlage eines hohen fachlichen Standards durch entsprechend
ausgebildete Fachkräfte wahrgenommen. Die ständige persönliche
und institutionelle Betreuung kann heute einfach nicht mehr ausschließlich
durch ehrenamtliche Kräfte gewährleistet werden. In der Folge
geriet aber die ursprüngliche Spontaneität und Freiwilligkeit
der privaten oder kirchlichen Initiative in ein allzu enges Korsett. Dabei
war die Finanzierbarkeit wiederum von zunehmend ausschlaggebender Bedeutung.
Und die ursprüngliche Aufgabenautonomie wurde durch eine Fülle
sachlicher und fachlicher Zwänge eingeschränkt.
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Ähnlich verhält es sich mit der Tradition ambulanter Hilfe,
zum Beispiel der kirchlichen Gemeindeschwester. Ihre Funktionen werden
heute von kommunalen oder anderen Sozialstationen (5)
mit verschiedensten Aufgaben wahrgenommen. Die Finanzierung liegt mittlerweile
größtenteils bei der öffentlichen Hand.
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In dieser Entwicklung liegen Probleme, die von Lotte Lemke schon frühzeitig
erkannt und auch beim Namen genannt wurden. Lotte Lemke hatte schon vor
Jahrzehnten als kommende Entwicklung aufgezeigt, was heute in der Tat vorzufinden
ist: Auf der einen Seite stehen die öffentlichen Stellen, die das
Geld geben, auf der anderen Seite die freien Träger, die die Aufgaben
durchführen. Lotte Lemke sah schon damals die Gefahr, daß die
staatliche Finanzierung den Wirkungs- und Einflußradius der freien
Organisationen in einer Weise beeinflussen würde, die ganz bestimmte
Übergewichte schafft, sie sah eine Entwicklung kommen, die die Unabhängigkeit
oder Freiheit der Freien Wohlfahrtspflege außerordentlich beeinträchtigen
sollte (6).
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Dies betrifft auch die politischen und demokratischen Grundlagen von
Staat und Gesellschaft; denn die Freie Wohlfahrtspflege ist in ihrem politischen
fundamentalen Stellenwert heute unumstritten! Dieser Stellenwert ist verfassungsrechtlich
verankert im Grundgesetz - in den Grundlagen des sozialen Rechtsstaates
und auch in dem Sonderstatus kirchlicher Einrichtungen. Dies wurde ausdrücklich
bekräftigt in mehreren Gesetzen, zum Beispiel dem Bundessozialhilfegesetz,
dem Jugendwohlfahrtsgesetz oder dem Sozialgesetzbuch sowie durch einige
Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts. Die Freie Wohlfahrtspflege
ist als konstitutiver, unverzichtbarer Bestandteil des „sozialen Netzes"
in der Bundesrepublik etabliert und anerkannt. Das eigenständige und
freie Angebot verschiedener konfessionell-kirchlicher und sozialethischer
Dienste bildet ohne Zweifel einen wesentlichen Beitrag zur politischen
Kultur und zur positiven Ausformung der sozialen Demokratie. Dies wird
aus dem vielfältigen sozialen Engagement mit sehr unterschiedlichen
Motiven deutlich - bei den kirchlichen Verbänden der Caritas, des
Diakonischen Werkes oder der jüdischen Gemein-
(5)
Reichmann, Maria, Sozialstation, in: Fachlexikon der sozialen Arbeit, hg.
v. Dt. Verein anläßlich seines 100jährigen Bestehens, Frankfurt/Main
1980, S. 718 f.
(6) Lemke, Lotte,
Die Freie Wohlfahrtspflege in den Wandlungen unserer Zeit, ein Vortrag
zur Reichskonferenz der Arbeiterwohlfahrt 1957 in Hamburg, Heft 10 der
Schriften der Arbeiterwohlfahrt, Bonn 1957, S. 11
--6--
den ist dies die Nächstenliebe, beim Deutschen Roten Kreuz die
Humanität in Katastrophen und sozialer Not, bei der Arbeiterwohlfahrt
die sozialpolitische, solidarische Betroffenheit gegenüber Notleidenden
oder beim Deutschen Paritätischen Wohlfahrtsverband die Sorge um die
Gleichberechtigung einer Vielzahl von Gruppen, die sich in unterschiedlicher
Form und Organisation in sozialen Diensten engagieren. - Mit Hilfe verantwortungsbewußter,
ehrenamtlicher Mitarbeiter kann sich die Freie Wohlfahrtspflege weit über
Grenzen hinaus entfalten, die einer staatlichen Sozialbürokratie gesetzt
sind. Freie Einrichtungen haben dank ihres hohen politischen Prestiges
und ihrer verfassungsrechtlich geschützten Stellung bessere Arbeitsbedingungen
als je zuvor.
Tiefgreifender Strukturwandel
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Dem guten Ruf der Freien Wohlfahrtspflege, der starken wirtschaftlichen
und politischen Stellung ihrer Verbände und ihrer sicheren Rechtsposition
entsprechen heute eine vielfältige Dienstleistungsstruktur, aber auch
eine hohe Leistungsanforderung in der Bevölkerung.
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Vermehrte finanzielle Anstrengungen und öffentliche Zuwendungen
wurden unumgänglich, so daß gelegentlich sogar von einer Krise
unter den Verbänden die Rede war; denn die Abhängigkeit der freien
Einrichtungen wuchs weiter an.
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Bei dieser Entwicklung ist aber auch ein tiefgreifender Strukturwandel
der freien sozialen Dienste zu beobachten. An vier Merkmalen kann dies
verdeutlicht werden:.
1. Die sozialen Einrichtungen werden nicht mehr nach dem Maßstab
freiwilliger Mildtätigkeit und Leistungskraft beurteilt, sondern nach
einem modernen, umfassenden Leistungsstandard. Oft werden dabei die erforderlichen
finanziellen Sicherungen allerdings nicht berücksichtigt.
2. Die freien Wohlfahrtsverbände passen sich dem vorherrschenden
sozialen Erwartungshorizont an - in der Aufgabengestaltung, im Selbstverständnis,
vor allem auch im selbstauferlegten Anspruch: „... insgesamt und durch
die Bedeutung der ... zusammengeschlossenen Organisationen die Gewähr
für eine stetige, umfassende und fachlich qualifizierte Arbeit sowie
für eine gesicherte Verwaltung ..." zu bieten (7).
3. Die in Staat und Gesellschaft üblichen Leistungsnormen werden
übernommen. Dies wirkt sich besonders finanziell aus durch die Angleichung
an das tarifrechtliche Vergütungsniveau des öffentlichen Dienstes.
4. Die Abhängigkeit freier Leistungsträger von staatlicher
bzw. kommunaler Zuwendung wächst. Überspitzt könnte man
sagen: Die freien Einrichtungen werden zu „Hilfs"-Bedürftigen und
„Hilfe"-Empfängern.
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Verstärkt wurde diese Entwicklungstendenz noch im Zuge der sogenann-
(7)
Dörrie, Klaus, Freie Wohlfahrtspflege, in: Fachlexikon der sozialen
Arbeit, hg. v. Dt. Verein anläßlich seines 100jährigen
Bestehens, Frankfurt/ Main 1980, S. 293
--7--
ten „Wohlfahrtsexplosion" der letzten 20 Jahre (8).
In zunehmendem Maße wurden auch die Führungsformen des gehobenen
Managements in der Freien Wohlfahrtspflege angewandt.
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In der Folge waren die freien Wohlfahrtsverbände einer weitreichenden
erstarrenden Bürokratisierung unterworfen, ausgelöst auch durch
verschiedenartigste gesetzliche Auflagen und zuwendungsbedingte Einschränkungen,
die eine flexible, situationsgerechte Reaktion auf neue Nöte verhinderten.
Schon vor Jahrzehnten wurden neuartige Probleme und soziale Fragen - und
das ist symptomatisch - außerhalb oder sogar gegen die freien Verbände
von Interessen-Gruppen aufgegriffen. Das Beispiel „Lebenshilfe für
geistig Behinderte" ist ein Phänomen, an dem bereits verschiedene
Entwicklungsphasen sichtbar wurden: von der anfangs spontanen, freien und
privaten Selbsthilfe-Initiative in den Anfängen bis zur wirkungsvoll
organisierten Interessenvertretung, die inzwischen weitgehend einem großen
Verband angeglichen ist. So verlangte die „Lebenshilfe" ebenso wie andere
bedeutende Wohlfahrtsverbände die staatliche Vollfinanzierung ihrer
Einrichtungen und Dienste. Auf diese Weise wurde auch bei ihr die Abhängigkeit
von staatlichen verwaltungsrechtlichen und bürokratischen Einflüssen
erheblich verstärkt.
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Die Wohlfahrtsverbände gerieten durch eigene Forderungen in ein
tiefgreifendes strukturelles Dilemma; denn eben die Vollfinanzierung löste
die Prüfungs- und Kontrollbegehren der öffentlichen Hand aus,
die mit dem Partnerschaftsprinzip im Verhältnis freier und öffentlicher
Träger konkurrierten. Mit den Forderungen einerseits nach Vollfinanzierung
und andererseits nach Freiheit der Einrichtungsträger verhält
es sich geradezu wie mit der Quadratur des Kreises. Die öffentliche
Vollfinanzierung freier Krankenhäuser wurde inzwischen sogar als „Beinahe-Verstaatlichung"
deklariert, weil die freien Träger der Krankenhäuser nicht mehr
als unabhängige Partner angesehen, sondern wie eine untergeordnete,
weisungsabhängige Staatsbehörde behandelt würden (9).
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Sicherlich ist der Strukturwandel der Freien Wohlfahrtspflege - weg
von den ursprünglichen Elementen - in wichtigen Grundzügen „normal"
und irreversibel. Das gilt für die Notwendigkeit hauptamtlicher Fachkräfte
und öffentlicher Finanzierung ebenso wie für die Entwicklung
sozialer Einrichtungen zu Großhaushalten mit eigenständigen
wirtschaftlichen Interessen.
Rückbesinnung
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Andererseits ist eine gewisse Rückbesinnung auf die ursprüng-
(8)
Bruch, Erhard, Sozialhilfe und Sonderschulen, in: Trends - 25 Jahre Landschaftsverband
Westfalen-Lippe, hg. v. der Statistischen Abteilung des Landschaftsverbands
Westfalen-Lippe, Münster 1978, S. 89
vgl. Statistisches Jahrbuch für die Bundesrepublik
Deutschland 1985, S. 421
(9) Seifert, Helmut,
Die kirchliche Wohlfahrtspflege im Sozialstaat der 80er Jahre, in: Diakonie
im Rheinland – Mitteilungen aus dem Diakonischen Werk der Evangelischen
Kirche im Rheinland, Sonderheft 1 (Januar 1985), Düsseldorf 1985,
S. 1 f.
vgl. Spiegelhalter, Franz, Das Geld der Freien Wohlfahrtspflege,
in: Die Spitzenverbände der Freien Wohlfahrtspflege - Aufgaben und
Finanzierung, Freiburg 1985, S. 22 f.
--8--
lichen, nach wie vor aktuellen Ziele im Sinne akuter Bedarfsorientierung
unerlässlich; denn hier steht auch die politische, demokratische Freiheit
auf dem Spiel. Oder kann es akzeptabel sein, daß soziale Dienste
nur als „Markenartikel" und Hilfsbedürftige nur als marktpolitische
Ressourcen gelten? Sollen Wohlfahrtsverbände mit ihren sozialen Einrichtungen
sich nicht vielmehr wieder mit den Betroffenen identifizieren - auch im
Sinne einer angemessenen Interessenvertretung?
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Neuere sozialpolitische Probleme bekräftigen den Zwang zur Rückbesinnung,
so zum Beispiel die anhaltend hohe Arbeitslosigkeit oder die Sorgen asylbegehrender
Ausländer, aber auch der Kostendruck auf die leeren öffentlichen
Kassen. So veränderte sich das Umfeld der Freien Wohlfahrtspflege
innerhalb weniger Jahre grundlegend. Und die freien Einrichtungen stehen
vor Problemen und Aufgaben, die früher nahezu unbekannt waren. Auch
das Phänomen der Selbsthilfe-Gruppen neuer Prägung belegt die
Dringlichkeit, die Entwicklung der Wohlfahrtspflege zu überdenken.
So wird der Begriff „Selbsthilfe" heute überhaupt als Synonym für
„Hilfe außerhalb der etablierten Organisationen, Einrichtungen und
Dienste" verstanden, insbesondere auch als Protest gegen die unzureichenden
inflexiblen traditionellen Hilfsangebote staatlicher und freier Einrichtungen
(10).
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Aber von welcher Seite ist ein Ausweg aus den Problemen der Wohlfahrtspflege
zu erwarten? Können freie Träger die vielfältigen bürokratischen
und finanziellen Hindernisse aus eigener Kraft überwinden? Oder ist
nicht vielmehr die öffentliche Hand gefordert, sich auf ihre sozialpolitische
Verantwortung zu besinnen, die erstarrend wirkenden Kontrollmechanismen
und Auflagen zu überdenken?
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Es gibt inzwischen verschiedene zukunftsweisende Reformprojekte und
Denkanstöße, die eine Reihe wichtiger Anregungen für das
Verhältnis zwischen freien und öffentlichen Trägern geben.
So wird gefordert, daß gewisse Kontrollbegehren der öffentlichen
Hand stärker gelockert werden zugunsten einer vermehrten Dispositionsmöglichkeit
freier Träger. Denn es kann nicht der Sinn
und es darf nicht die Folge staatlicher oder kommunaler Prüf- und
Kontrollverfahren sein, die flexible soziale Initiative und eine wirtschaftlich-effektive
Betriebsführung freier Träger zu erschweren oder sogar zu verhindern.
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Eine Lockerung öffentlicher Kontrolle kann freilich auch mißbraucht
werden. Dagegen bietet ein strengeres Prüfsystem nur eine zweifelhafte
Alternative, denn vor raffiniertem Betrug gibt es erfahrungsgemäß
keine perfekte, lückenlose Sicherheit. Sie wäre ohnehin nur annähernd
zu erreichen. Und sie wäre für die freien und öffentlichen
Träger zusätzlich mit einem unerträglichen planwirtschaftlichen
Bürokratisierungseffekt verbunden. Die staatliche Abhängigkeit
würde erhöht. Die Freie Wohlfahrtspflege würde noch weiter
weggedrängt von ihrer eigentlichen Aufgabe, einer autonomen, flexiblen
und wirtschaftlichen Gestaltung sozialer Dienste.
(10)
Prognos-AG, Entwicklung der Freien Wohlfahrtspflege bis zum Jahre 2000,
eine Studie i. A. d. Bank für Sozialwirtschaft, Basel 1984, S. 45
--9--
Ein besonderes Problem betrifft allerdings den Grenzbereich oder das
Umfeld der großen Wohlfahrtsverbände. Seit Jahren sind ihnen
mehr und mehr rechtlich selbständige Vereine, GmbH's oder andere Institutionen
angeschlossen.
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Liegt dabei auch stets die ganze Breite gegenseitiger Verantwortung,
gegenseitiger Rechte und Pflichten, das Einstehen füreinander vor
wie bei regulären Mitgliedern? Dies scheint keineswegs selbstverständlich.
Hier drängt sich gelegentlich der Verdacht auf, daß einseitig
Vorteile aus einem Sonder-Verhältnis beansprucht werden, ohne entsprechende
Verantwortung zu übernehmen. Vorteile sind: man nimmt an dem Image
der Glaubwürdigkeit des Spitzenverbandes teil, man schafft die Voraussetzungen
für die Gewährung der öffentlichen Mittel. Der Spitzenverband
einerseits gewinnt mehr Spielraum für eigene Aktivitäten. Er
kann auf diese Weise avantgardistische Unternehmen mit wohlwollender Distanz
begleiten. Schließlich - nebenbei gesagt - fällt insbesondere
das Management der neuen Einrichtungen nicht unter die tarifrechtliche
Verpflichtung des Spitzenverbandes. Dem Spitzenverband wird auch keine
ausreichende Aufsichtsmöglichkeit eingeräumt, was dazu führt,
daß er eine Verantwortung für das Geschehen nicht übernimmt,
vielleicht auch nicht tragen kann. Weitere Schwierigkeiten beruhen auf
dem räumlichen Nebeneinander von Einrichtungen, die verschiedenen
Organisationsebenen eines Wohlfahrtsverbandes angehören, zum Beispiel
der Bundes- und der Landesebene. Nicht immer liegt dem regionalen Spitzenverband
eine vollständige Übersicht der Mitgliedseinrichtungen seines
Bezirkes, ihrer unterschiedlichen rechtlichen und organisatorischen Beziehungen,
vor. Dies ist jedoch problematisch, weil der regionale Spitzenverband gemäß
Neufassung der Allgemeinen Vereinbarung die Selbstkostenblätter testieren
muß, die Grundlage für die Pflegesätze sind. Diese Verpflichtung
reicht erfahrungsgemäß aber auch für den Spitzenverband
nicht aus, um sich selbst in einer Verantwortung für das Geschehen
vor Ort zu sehen.
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So drängt sich die kritische Anfrage an die Freie Wohlfahrtspflege
auf, ob dieser Weg richtig ist. Ist die Freie Wohlfahrtspflege hier gut
beraten? Sie wird allenthalben identifiziert mit Begriffen wie Nächstenliebe
oder Solidarität mit den Benachteiligten. Aber sie läßt
es zu, daß soziale Einrichtungen den Eindruck erwecken, sie seien
reguläre Mitglieder. Diese Illusion erfährt zusätzlichen
Auftrieb durch die irreführende Verwendung einschlägiger Embleme
und Bezeichnungen. Für den Dritten ist überhaupt nicht erkennbar,
daß hier keine Identität vorliegt. Selbst für Behörden
ist dies häufig schwer festzustellen.
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Die Freie Wohlfahrtspflege sollte sich von dubiosen Einrichtungen zweifelsfrei
distanzieren und für klare, überschaubare Rechtsbeziehungen unter
den Mitgliedern und Verbandsgliederungen sorgen, zum Beispiel hinsichtlich
der Wirtschaftsprüfung. Dazu liegen aus der Diakonie in Westfalen
und Lippe bereits beispielhafte, überzeugende Satzungsbestimmungen
vor. In der Caritas wird zur Zeit noch über eine angemessene Neuregelung
verbandsinterner Kontroll- und Prüfrechte beraten, die den modernen
Anforderungen gerecht wer-
--10--
den soll. Die Spitzenverbände sollten sich nicht aus der Verantwortung
ziehen, wo sie am meisten gefordert sind, nämlich wenn es darum geht,
für Fehler und Mißbrauch einzustehen. Hier steht Glaubwürdigkeit
auf dem Spiel!
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Diese Randerscheinungen stellen das öffentliche Zugeständnis
größerer Unabhängigkeit in Frage. Dies ist schließlich
nur im Vertrauen auf eine Gegenleistung der freien Träger möglich.
Von ihnen ist wieder mehr politische Verantwortung zu erwarten, um das
Wagnis der öffentlichen Hand zu rechtfertigen. Größere
Unabhängigkeit erfordert nämlich auch die Bereitschaft der freien
Träger, wirtschaftliche Risiken eigenverantwortlich zu tragen oder
zumindest mitzutragen. Anders ausgedrückt: wer kein Risiko anzunehmen
bereit ist, liefert sich dem Mißtrauen, dem Kontroll- und Prüfbegehren
der öffentlichen Hand aus und versagt sich die notwendige wirtschaftliche
Bewegungsfreiheit selbst.
Vollfinanzierung und Abhängigkeit
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Es bestehen jedoch berechtigte Zweifel, die teils schon erwähnt
wurden, daß die freien Einrichtungsträger nämlich von sich
aus nicht die Kraft besitzen, den Teufelskreis zu durchbrechen von öffentlicher
Vollfinanzierung und erhöhter Abhängigkeit von der öffentlichen
Hand. Es bedarf vielmehr eines ersten Schrittes durch den Kostenträger.
Dies kann sich nicht auf Klagen, auf Zustands- oder Ursachenbeschreibung
beschränken, die für alle Beteiligten unbefriedigend sind. So
ist zu Recht auch die Frage nach dem „wie?". d. h. nach konkreten greifbaren
Konsequenzen zu stellen! Dazu können Beispiele aus dem großen
Aufgabenbereich des Landschaftsverbandes Westfalen-Lippe als sozialem Leistungsträger
aufschlußreich sein, um denkbare Lösungsansätze zu verdeutlichen.
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Zu nennen sind die Finanzierung der laufenden Kosten stationärer
und teilstationärer Einrichtungen der Behinderten- und Altenhilfe,
ebenso die Funktion des Landschaftsverbandes als Bewilligungsbehörde
für die öffentliche Finanzierung von Investitionen, insbesondere
von Baumaßnahmen. Der Landschaftsverband ist bekanntlich dazu verpflichtet,
über die Deckung von Individualansprüchen die Kosten in Einrichtungen
der Jugendhilfe, der Behindertenhilfe, der Kriegsopferfürsorge sowie
für die Betreuung pflegebedürftiger Menschen zu finanzieren.
Dazu werden Pflegesätze für die Kostenerstattung freier Einrichtungen
festgesetzt. Dies erfolgt auf der Grundlage von Pflegesatzvereinbarungen
zwischen öffentlichem Kostenträger und den freien Einrichtungsträgern,
denen ein hohes Maß an bürokratisch aufwendigen Darlegungs-
und Nachweispflichten abverlangt wird, sogar innerhalb einzelner Kostenarten.
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Wäre hier nicht eine pauschalere Kostenermittlung wünschenswert
und auch möglich? Böte sie nicht Anreize zu einer wirtschaftlichen,
effektiven Betriebsführung? Gäbe sie dem Einrichtungsträger
nicht mehr Bewegungs- und Dispositionsfreiheit? In dieser Richtung ist
sicher auch das öffentliche Kontroll- und Prüfrecht zu überdenken.
Dieses Vorhaben widerspricht zweifellos der Forderung nach mehr öffentlicher
--11--
Kontrolle, wie sie teilweise auch heute noch erhoben wird. Hinter diesen
Forderungen verbirgt sich ein sicher verständliches Mißtrauen,
das von den schlechten Erfahrungen und Mißständen im früheren
Sozialwerk St. Georg herrührt. Sicher wäre es von großem
Nachteil, sich davon blenden zu lassen. Die Angst, daß sich ähnliche
Mißstände unter freien Einrichtungsträgern wiederholen,
darf nicht zur Panik führen! Sie wäre ein schlechter Berater
und Wegweiser und würde von den eigentlichen Anliegen Freier Wohlfahrtspflege,
der unbürokratischen, effektiven Hilfe notleidender Menschen, weiter
ablenken. Daraus ist freilich andererseits kein genereller Verzicht auf
öffentliche Kontrolle abzuleiten. Zwar ist die staatliche bzw. kommunale
Aufsicht bei globalen Zuwendungen grundsätzlich unverzichtbar. Aber
werden ihren Anforderungen nicht ebenso veröffentlichte Bilanzen der
freien Träger gerecht, Vermögensübersichten, Gewinn- und
Verlustrechnungen? Sie könnten von unabhängigen Wirtschaftsprüfern
und der erfahrungsgemäß sehr sorgfältigen Innenrevision
geprüft werden, vielleicht sogar penibler, als dies dem Landschaftsverband
derzeit möglich ist.
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Nun zu den investiven Ausgaben. In diesem Bereich steht der Antragsteller
in der Regel vor einem Dickicht unterschiedlichster, auch für Experten
nur schwer überschaubarer Bedingungen. Dies gilt vor allem für
die Mischfinanzierung aus Zuwendungen von Bund, Land und Kommunen für
einzelne befristete Projekte.
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Zeitliche Verzögerungen in der Antragsbearbeitung, unberechenbare,
nicht selten zufällige Änderungen, zum Beispiel der plötzliche
und unerwartete Rückzug eines Zuwendungsgebers, bringen nicht nur
den freien Träger in erhebliche finanzielle und rechtliche Schwierigkeiten.
Sie gehen auch zu Lasten der wirklich Betroffenen. Gelegentlich wird sogar
das
zu fördernde Projekt insgesamt in Frage gestellt, so daß der
freie Träger mit seinen vertraglichen Verpflichtungen, zum Beispiel
mit fortlaufenden Betriebs- und Personalkosten auf sich allein gestellt
ist. Aus diesen Gründen fällt es der Freien Wohlfahrtspflege
heute verständlicherweise schwer, sich akuten neuen Problemen zu stellen.
Auch das ist eine Zumutung für diejenigen, die Hilfe gerade am wichtigsten
brauchen.
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Hier ist eine bessere Abstimmung der verschiedenen Zuwendungsgeber
zu wünschen in Bund, Land und Gemeinden, einschließlich der
kommunalen Spitzenverbände, um ein partnerschaftliches Zusammenwirken
und die Rücksicht auf lokale bzw. regionale Bedürfnisse sicherzustellen
(11). Entsprechende Vereinbarungen
wären gerade für die Freie Wohlfahrtspflege zweifellos von wesentlicher
Bedeutung, da ihre Projekte auf zuverlässige Zusagen und auf die Kontinuität
der Förderung angewiesen sind - ohne zeitliche Verzögerung, ohne
Unterbrechung und ohne andere Unwägbarkeiten.
(11)
Deutscher Verein für öffentliche und private Fürsorge, Probleme
bei der Gewährung von Zuwendungen im sozialen Bereich und Überlegungen
zu ihrer Verbesserung, Ausarbeitung des Arbeitskreises: „Finanzierungsfragen"
des Fachausschusses 1 (Sozialhilfe und Sozialpolitik), Vorlage zur Sitzung
des Fachausschusses 1 am 07. 03. 1986 DV Nr. 12/86, 20. 02. 1986 - VAL,
S. 18-27
--12--
Erwähnenswert sind auch die unterschiedlichen Finanzierungsarten
im Bereich staatlicher und kommunaler Zuwendungen, die das Maß der
Freiheit oder Unfreiheit der Freien Wohlfahrtspflege beeinflussen. Bei
den investiven Kosten sollte unter den sehr unterschiedlichen angewandten
Möglichkeiten der Festbetragsfinanzierung als einziger der Vorzug
gegeben werden. Sie gilt als die adäquateste Finanzierungsart autonomer,
freigemeinnütziger Träger sozialer Einrichtungen (12).
Sie sichert einen hohen Gestaltungsspielraum des Trägers und erfordert
auch eine gewisse Risikobereitschaft. Sie gibt aber zugleich die Chance
zu wirtschaftlichem Handeln.
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Es handelt sich nämlich um eine Finanzierungsart, bei der ein
fester Betrag zu den zuwendungsfähigen Gesamtausgaben gewährt
wird. Bei Kostenunterschreitung ist der Träger zu keiner anteiligen
Rückzahlung verpflichtet, andererseits kann er aber in der Regel auch
eine Kostenerhöhung nicht durch Nachfinanzierung geltend machen, selbst
wenn er sie nicht zu verantworten hat. Von Nachteil mag die Nachrangigkeit
der Förderung gegenüber der Eigenfinanzierung des freien Trägers
sein. Ausschlaggebende Vorzüge aber liegen sicher in den klaren Orientierungsdaten
über die zu erwartende Höhe der Zuwendung, außerdem in
der Forderung nach einem nur begrenzten Einblick in die finanziellen, wirtschaftlichen
Verhältnisse des freien Trägers.
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Zusammenfassend läßt sich die Festbetragsfinanzierung als
besonders vorteilhaft hervorheben, weil sie Anreize für ein wirtschaftliches
Verhalten des Zuwendungsempfängers enthält und weitestgehend
seiner Autonomie gerecht wird.
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Gemessen an diesem Maßstab erweisen sich andere Finanzierungsarten
als nachteilig. Die Fehlbedarfs- und die Anteilfinanzierung ordnen zum
Beispiel die öffentlichen Zuwendungen nachrangig oder in einem bestimmten
Anteil gegenüber den zuwendungsfähigen Ausgaben bzw. zu den Eigenmitteln
des freien Trägers. Die Fehlbedarfsfinanzierung zwingt ihn sogar zur
völligen Offenlegung seiner wirtschaftlichen und finanziellen Verhältnisse.
Sie ist rigide an bestimmten Quoten orientiert und erfordert je nach Kostenüberschreitung
oder Kostenunterschreitung entsprechende Nachfinanzierungen bzw. Rückzahlungen.
In diesem planwirtschaftlichen Muster kommt eine eventuelle Wirtschaftlichkeit
oder Sparsamkeit des freien Trägers einseitig nur der öffentlichen
Hand zugute; denn eine Kostenunterschreitung erfordert eine anteilmäßige
Rückführung der gewährten Zuwendung. Es fehlt, um es in
einem Satz zu sagen, der Anreiz zu wirtschaftlichem, eigenverantwortlichem
Verhalten des freien Trägers.
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Bei der Finanzierung investiver Aufgaben wird die Bewegungsfreiheit
der freien Träger auch durch das Antragsverfahren und den unumgänglichen
Verwendungsnachweis über
(12)
Dt. Verein für öffentliche und private Fürsorge, Probleme
bei der Gewährung von Zuwendungen im sozialen Bereich ..., a.a.O.,
S. 16
vgl. Finanzielle Beziehungen zwischen Freier Wohlfahrtspflege
und öffentlichen Sozialleistungsträgern mit Grundsätzen
und Hinweisen zur Pflegesatzgestaltung, hg. v. der Bundesarbeitsgemeinschaft
der Freien Wohlfahrtspflege, Bonn 1981, S. 11
--13--
Gebühr eingeengt. Hier ist dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit
der Mittel wieder stärkeres Gewicht zu verleihen. Ist der Umfang der
verlangten Antragsunterlagen der bürokratischen Belastung für
den freien Träger immer angemessen? Und ist eine amtliche Sicherung
des Verwendungszweckes zu verantworten, die den Zuwendungsempfänger
mit zusätzlichen, finanziellen, bürokratischen Verpflichtungen
bindet und vielleicht sogar seine Kreditwürdigkeit einschränkt?
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Das Problem der Verhältnismäßigkeit berührt ebenso
die sogenannte Modellförderung im weitesten Sinn. Sie gilt für
Aufgaben neuen Typs, deren wirksame oder dauerhafte Bewältigung zwar
noch ungewiß ist, jedoch keinen Aufschub duldet. Dazu werden in der
Regel öffentliche Mittel gewährt unter sorgfältig ausformulierten
Bedingungen und Auflagen, vor allem unter dem Vorbehalt der Rückzahlung,
wenn der erwartete Erfolg nicht eintritt. Ist diese Verfahrensweise nicht
unangemessen und zutiefst unglaubwürdig? Auch der öffentliche
Kostenträger weiß um die Risiken. Das Wagnis freier neuer Initiativen
wirklich modellhaften Charakters wird trotz der Zusagen öffentlicher
Förderung beträchtlich gehemmt oder sogar verhindert, weil das
Risiko des Scheiterns oder eventueller Schadensersatzforderungen dem Zuwendungsempfänger
allein aufgebürdet ist. Die Bereitschaft zum Risiko sollte aber fairerweise
auf beiden Seiten liegen, wenn nicht sogar vorrangig bei der öffentlichen
Hand. Dies erfordert das Partnerschaftsprinzip im Verhältnis freier
und öffentlicher Wohlfahrtspflege. Sind hier nicht auch autonome Frauenhäuser
und Sozialstationen einzubeziehen?
.
Fragen und Beispiele dieser Art ließen sich noch beliebig ergänzen.
Hier können jedoch nur Anstöße und Impulse gegeben werden.
Auch die angesprochenen Gedanken über das Verhältnis freier und
öffentlicher Träger können nur der Anfang eines Entwicklungsprozesses
sein, in dem die ursprünglichen Perspektiven der Freien Wohlfahrtspflege
wieder zu neuer Lebenskraft gelangen. Darin liegt ein entscheidendes Ziel,
an dem die letztlich systemprägenden finanz- und haushaltsrechtlichen
Verfahrensweisen zu messen sind.
Bewußtseinswandel
.
Dies bedarf sicher eines grundlegenden politischen Bewußtseinswandels
auf beiden Seiten, der nicht vom „grünen Tisch" verordnet werden kann,
sondern auf die alltägliche Praxis und das gegenseitige Vertrauen
angewiesen ist. Wenn hier von „Bewußtseinswandel auf beiden Seiten"
die Rede ist, so ist vor allem das Spannungsverhältnis zwischen öffentlichen
Kostenträgern und den freien Einrichtungsträgern betroffen. Dabei
sollte das traditionell hohe Potential ehrenamtlicher Mitarbeit und Hilfsbereitschaft
nicht unterschätzt werden.
.
In allen Bereichen sozialer Arbeit ist das ehrenamtliche Engagement
trotz der sehr fortgeschrittenen Professionalisierung in der Freien Wohlfahrtspflege
nach wie vor stark ausgeprägt. Aber wird die Chance, die darin liegt,
von den Betroffenen immer wahrgenommen und anerkannt?
--14--
Oder wird die ehrenamtliche Mitarbeit nicht eher zugunsten professionell-überzogener
Fachlichkeit oder sogenannten Expertentums vernachlässigt?
.
Nach zuverlässigen Schätzungen sind jedem hauptamtlichen
Mitarbeiter zwei oder drei ehrenamtliche Kräfte hinzuzuzählen
(13). Dabei schließt „ehrenamtliche
Tätigkeit" die unterschiedlichsten Formen sozialer Arbeit ein - von
der persönlichen, privaten Betreuung durch Einzelgespräche und
Beratung über die kontinuierliche Mitarbeit in bestimmten Veranstaltungen
bis hin zu Vormundschaften oder zur Gremienarbeit. -Zwar ist es zweifellos
richtig, daß ehrenamtliche Mitarbeiter die in vielen Bereichen erforderliche
Professionalität nicht ersetzen können und auch nicht sollen.
Gleichwohl sind ehrenamtliche Mitarbeiter für die Wohlfahrtspflege
unverzichtbar durch ihre Lebenserfahrung, Kontaktfreudigkeit, Zivilcourage,
ihre Fähigkeit zur Improvisation, konstruktiver Kritik und zum Durchhalten
schwieriger Aufgaben, ihre Milieukenntnis, Gelassenheit, ihre sozialen
und persönlichen Beziehungen oder überhaupt ihre Menschlichkeit
(14). Ebenso darf sich die Freie Wohlfahrtspflege
auch auf die große Hilfsbereitschaft in der Bevölkerung stützen.
Diese Unterstützung durch ehrenamtliche, freiwillige Mitarbeiter ist
für das Selbstverständis und die Praxis in der Freien Wohlfahrtspflege
unersetzbar, vor allem in der Arbeit für sozial Schwache, in der Behinderten-
und Altenhilfe. Hier sind auch heute noch Elemente dessen erhalten, was
Lotte Lemke vor einem Vierteljahrhundert postuliert hat. Darauf kann die
Wohlfahrtspflege auch in Zukunft aufbauen.
.
Die ganze Kraft sollte dazu verwandt werden, die ehrenamtliche und
die freie soziale Arbeit zu fördern und zu verstärken. Auch die
Bemühungen um vermehrten Gestaltungsspielraum zu eigenverantwortlichem,
wirtschaftlichem Handeln der freien Träger kann hier einen wirksamen
Beitrag leisten. Vertrauen gegen Vertrauen - das muß in der Zusammenarbeit
mit der Freien Wohlfahrtspflege die Devise sein.
(13)
Gesamtstatistik der Einrichtungen der Freien Wohlfahrtspflege, hg. v. der
Bundesarbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege, Bonn 1984, S. 5
f.
(14) Bock, Teresa,
Ehrenamtliche Tätigkeit im sozialen Bereich, in: Fachlexikon der sozialen
Arbeit, hg. v. Dt. Verein anläßlich seines 100jährigen
Bestehens, Frankfurt/Main 1980, S. 210 f.
--15--
Erläuterungen
Der erste Textbeitrag ist die überarbeitete Fassung einer Rede,
die am 17. Juli 1986 vor der 8. Landschaftsversammlung Westfalen-Lippe
vorgetragen wurde. — Die Daten zu Eingliederungshilfe für Behinderte
und Hilfe zur Pflege wurden von der Statistischen Abteilung des Landschaftsverbandes
Westfalen-Lippe bearbeitet.
.
Herbert Neseker, geboren am 12. März 1929, ist seit dem 2. April
1979 Direktor des Landschaftsverbandes Westfalen-Lippe.
.
Dr. Arnold Vogt, geboren am 7.
März 1952, ist seit dem 1. März 1986 Mitarbeiter des Landschaftsverbandes
Westfalen-Lippe.
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